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14 / 2 / 2005 Gebrauchsfilm (1) – Godards Geschichte(n)

Gebrauchsfilm (1) – Godards Geschichte(n)

Editorial (PDF 73 kB)

Vinzenz Hediger
«Dann sind Bilder also nichts!»
Vorüberlegungen zur Konstitution des Forschungsfelds «Gebrauchsfilm»
(PDF 87 kB)

Scott Curtis
Die kinematographische Methode.
Das <Bewegte Bild> und die Brownsche Bewegung
(PDF 201 kB)

Oliver Gaycken
Das Privatleben des Scorpion Languedocien:
Ethologie und L´Age d´or (1930)
(PDF 95 kB)

Tania Munz
Die Ethologie des wissenschaftlichen Cineasten:
Karl von Frisch, Konrad Lorenz und das Verhalten der Tiere im Film
(PDF 178 kB)

Thierry Lefebvre
Dr. Eugène-Louis Doyen und die Anfänge des Chirurgie-Films (PDF 69 kB)

Rainer Herrn und Christine N. Brinckmann
Von Ratten und Männern: Der Steinach-Film (PDF 318 kB)

Oskar Kalbus
Der Steinachfilm (PDF 68 kB)

Markus Stauff
Instant Replay: Fernsehen und Video als Gebrauchsfilme des Sports (PDF 291 kB)

Ramón Reichert
Kinotechniken im Labor: Das Stanford Prison Experiment (1971) (PDF 149 kB)

Alexandra Schneider
Videofilme im Aufzug, Projektionen im Flugzeug:
Gebrauchsfilme außerhalb des Kinos
(PDF 84 kB)

Jacques Rancière
Eine Fabel ohne Moral: Godard, das Kino, die Geschichten (PDF 179 kB)

Editorial

Die Filmwissenschaft hat sich für ihre Gegenstände lange Zeit in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Kunstwerts und der Kunstwirkung oder aber dem der gesellschaftlichen Relevanz interessiert. Entsprechend beschränkte sich das Erkenntnisinteresse weitgehend auf den Spiel-, den Dokumentarund den Experimentalfilm, also auf Filme, die sich entweder als Kunstwerke verstanden oder aber so erfolgreich waren, dass sie, wie viele Hollywood-Filme, zu kulturellen Phänomenen wurden und sich für symptomatische und ideologiekritische Lektüren anboten. Dabei fielen aus dem Gegenstandsbereich der Disziplin eine Vielzahl von Filme heraus, so auch diejenigen, die man als Gebrauchsfilme oder instrumentelle Filme bezeichnen könnte. Diese Kategorie umfasst Gattungen wie den Industriefilm, den Schulungsfilm oder den Wissenschaftsfilm, Filme also, die nicht primär ästhetisch-künstlerische Artefakte sind, sondern von ihren Produzenten als Instrumente aufgefasst werden, d.h. als Mittel für bestimmte, klar definierte Zwecke, die in organisierten Prozessen der/zur Herstellung von Kenntnissen, Gütern und gesellschaftlichem Verhalten verfolgt werden. Unter Verwendung eines wissenschaftstheoretischen Begriff, den Hans-Jörg Rheinberger zur Beschreibungen des Ensembles von Geräten und Vorkenntnissen geprägt hat, die im Labor zur Anwendung kommen, könnte man diese Filme auch als «technische Dinge» bezeichnen.

Zwar setzte die empirisch-psychologische Beschäftigung mit Film unter anderem mit der Untersuchung von Armee-Schulungsfilmen durch Howland, Lumsdaine und Sheffield in den USA der 1940er Jahren ein. In der Filmwissenschaft aber blieb Geneviève Jacquinots semiotische Studie Image et pédagogie von 1977 lange Zeit die einzige Arbeit, die sich mit Gebrauchsfilmen vertieft auseinandersetzte. Erst seitdem sich die Filmwissenschaft - nicht zuletzt im Zeichen der Entfaltung der «visual culture studies» -zunehmend als allgemeine Kulturwissenschaft des Bewegtbildes zu verstehen beginnt, erscheinen Forschungsarbeiten, die dem instrumentellen Einsatz des Films in wissenschaftlichen, ökonomischen und institutionellen Zusammenhängen vertiefte Beachtung schenkten. Wegweisend war hierfür insbesondere Lisa Cartwrights diskursanalytische Studie Screening the Body (1997) über die visuellen Praktiken und die Verwendung des Films in der Medizin um die Wende zum 20. Jahrhundert. Mittlerweile setzt sich die Film- und Medienwissenschaft an unterschiedlichsten Orten verstärkt mit «nützlichen» Bildern und Gebrauchsfilmen auseinander, in Deutschland ebenso wie in Frankreich, Skandinavien und den angelsächsischen Ländern. In den Nachbardisziplinen lässt sich parallel dazu eine zunehmende Beschäftigung mit bildgebenden Verfahren in der Wissenschaftsforschung oder eine Hinwendung zu bildtheoretischen Fragestellungen und zum Komplex von Bild, Technik und Wissen in der Kunstwissenschaft feststellen. In den allgemeinen kulturwissenschaftlichen Debatten um Bildtheorie und Wissensproduktion kommt nun der Filmwissenschaft eine besondere Rolle zu, verfügt sie doch als einzige Disziplin über ein differenziertes Instrumentarium für die Analyse von Bewegtbildern, das sich einer Tradition der theoretischen Beschäftigung mit dem Bewegtbildmedium verdankt, die hinter die akademische Institutionalisierung der Disziplin in den 1960er und 1970er Jahren noch weit zurückreicht.

Angesichts der Fülle von Themen und Gegenständen, die im Bereich des Gebrauchsfilms noch zu erschließen sind, und angesichts der Vielfalt und Qualität der aktuellen Forschung haben wir uns entschieden, dem Gebrauchsfilm zwei Nummern unserer Zeitschrift zu widmen. Ziel dieser Schwerpunktsetzung ist es, eine erste Topographie des Forschungsfeldes anzulegen: Methodologische Probleme zu diskutieren, die sich im Zusammenhang mit Gebrauchsfilmen stellen, unterschiedliche Typen des Gebrauchsfilms zu analysieren und wichtige Kontexte des Gebrauchs solcher Filme zur Darstellung zu bringen. Die erste, hier vorliegende Nummer befasst sich schwerpunktmäßig mit dem Wissenschaftsfilm zwischen Laborpraxis und Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse, wobei unterschiedliche Disziplinen wie die Physik, die Ethologie und die Sozialpsychologie zur Sprache kommen. Die zweite Nummer, die im Sommer 2006 erscheint, wird sich hauptsächlich mit Gebrauchsfilmen auseinandersetzen, die pädagogische Ziele verfolgen oder in der ökonomie eingesetzt werden.

Den Prolog zu dieser Nummer bildet ein Fundstück aus einer amerikanischen Branchenzeitung für Kinobetreiber aus den 1910er Jahren, ein Artikel, in dem ausgehend von einem Vortrag eines deutschen Ingenieurs über den vielfältigen Nutzen des Films für die wissenschaftliche Forschung berichtet wird. Es folgt ein kurzer Einleitungsessay, der den Forschungsgegenstand des instrumentellen Films näher beleuchtet und das Problemfeld umreißt. Dass die Verwendung des Films nicht zuletzt an deutschen Forschungsinstituten schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gang und gäbe war, legt Scott Curtis in seinem Beitrag über der Marburger Physiker Max Seddig dar, der 1907 den Versuch unternahm, Einsteins Theorie der Brownschen Bewegung mit den Mitteln des Films zu bestätigen. Anhand von Seddigs Beispiel geht Curtis der Frage nach, weshalb der Film in den Forschungspraktiken der Naturwissenschaften so rasch Verbreitung fand. Er führt dies auf die überlegene Beweiskraft des bewegten Bildes zurück, aber auch auf eine grundlegende Affinität zwischen Bewegtbildmedium und wissenschaftlicher Methode.

Die Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst zu verwischen war eines der Postulate der Surrealisten in den 1920er Jahren. Oliver Gaycken verfolgt die Umsetzung dieses Postulats in seinem Beitrag am Beispiel eines frühen Wissenschaftsfilms über den Skorpion aus dem Languedoc, der in Luis Buñuels L´Age d´Or eine künstlerische Zweitverwertung fand. Wie Gaycken darlegt, lässt sich Buñuels Faszination für Insekten und Arachnoiden nicht zuletzt auf seine Lektüre des Werks von Jean-Henri Fabre zurückführen, einem Entomologen des 19. Jahrhunderts, der auf seine Weise zu den Vorläufern der modernen Ethologie zählt. Mit deren Gründerfiguren beschäftigt sich Tania Munz in ihrem Beitrag über die Filmarbeit der beiden Verhaltensforscher Karl von Frisch und Konrad Lorenz. Anhand der Labor- und Kulturfilme der beiden Forscher unternimmt sie auch sie eine Ethologie - und zwar des Verhaltensforschers im Kino. ähnlich wie Konrad Lorenz benutzte der französische Chirurg Eugène- Louis Doyen um die Wende zum 20. Jahrhundert den Film nicht nur als Instrument der Forschung, sondern, wie Thierry Lefebvre zeigt, auch als Medium der Vermehrung seiner wissenschaftlichen Reputation. Als Medium der Popularisierung medizinischer Behandlungsmethoden kommt der Film im Beitrag von Christine Noll Brinckmann und Rainer Herrn zur Sprache. Sie setzen sich mit dem Steinachfilm auseinander, der im Kontext der sexualwissenschaftlichen Forschung der 1920er Jahre zu situieren ist und ein breiteres Publikum von den Vorzügen einer Verpflanzung der männlichen Gonaden unter die Bauchdecke zu überzeugen versuchte. Als Ergänzung der kritischen Analyse von Brinckmann und Herrn drucken wir einen zeitgenössischen Text von Oskar Kalbus über den Steinachfilm aus dem Jahr 1924 wieder ab. Den Begriff des Gebrauchsfilms auf den Sport anwendend und aufs Fernsehen erweiternd, setzt sich Markus Stauff in seinem Beitrag mit filmischen Mess- und Prüfverfahren in der televisuellen Aufbereitung von Sportereignissen auseinander, wobei er Parallelen zu wissenschaftlichen Messverfahren im Labor aufzeigt. Die Verwendung von Videokameras und von Filmsettings in einer sozialpsychologischen Versuchsanordnung ist das Thema von Ramón Reicherts Beitrag über das bekannte «Stanford Prison Experiment», in dem er sowohl die Verwendung filmischer Technik im ursprünglichen Versuch wie auch die Zweitverwertung des Videomaterials in einem Dokumentarfilm über das Experiment analysiert. Anhand eines Informationsvideos im Aufzug des Sears Tower in Chicago sowie anhand von Filmen, die in Passagierflugzeugen gezeigt werden, befasst sich Alexandra Schneider schließlich mit Film und Video als Medien der Steuerung von sozialem Verhalten in öffentlichen Räumen.

Den Abschluss dieser Nummer bildet ein Text des französischen Philosophen Jacques Rancière über Jean-Luc Godards Videoarbeit Histoire(s) du Cinéma. Rancière, neben Stanley Cavell einer der wichtigsten lebenden Philosophen, die sich eingehend mit Film und Kino auseinandersetzen, verdeutlicht mit seinem Text unter anderem, wie sehr Godards Arbeit von Andrè Bazins filmtheoretischen Reflexion geprägt ist. Der Abdruck von Rancières Text, der hier in deutscher Erstübersetzung erscheint, führt nicht zuletzt die kontinuierliche Beschäftigung dieser Zeitschrift mit der Geschichte der Filmtheorie fort.
Vinzenz Hediger

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