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28 / 1 / 2019 Transnationales Kino

Transnationales Kino

Editorial:
Transnationale Perspektiven (109 kB)

Daniela Berghahn
Exotismus im World Cinema und
die transnationale Rezeption
(20 MB)

Lutz Koepnick
Trumping the Transnational?
World Cinema im Zeitalter des Populismus
(2,7 MB)

Veronika Fuechtner
Sylvio Backs Lost Zweig (2002) und
die transnationale Ästhetik von Exil und Faschismus
(2 MB)

Cecilía Mello
Transnationale Reisen und urbane Begegnungen in
Gegen die Wand und Import/Export
(2,3 MB)

Marius Kuhn
Gescheiterte Annäherung.
Der amerikanische Kriegsfilm A Time to Love and a Time to Die
und seine bundesdeutsche Rezeption
(11 MB)

Artikelreihe «Feministische Perspektiven»

Kathleen McHugh
Die Welt und die Suppe.
Zur Historisierung von Medienfeminismen in
transnationalen Kontexten
(3,9 MB)

In memoriam

Annette Michelson (580 kB)
Freddy Buache (820 kB)

Editorial:
Transnationale Perspektiven

In dem 2015 veröffentlichten Dicionário de Cinema Brasileiro des Filmhistorikers Jurandyr Noronha, das unter dem Titel «Os que vieram de outras terras» (Die, die aus anderen Ländern kamen) Kurzbiografien ausländischer Filmschaffender in Brasilien verzeichnet, finden sich auch deutsche Namen: Zwei Einträge widmen sich den Brüdern Franz und Edgar Eichhorn. Beide begannen ihre Karriere in der deutschen Filmbranche Ende der 1920er-Jahre und wirkten u. a. am Spielfilm Kautschuk (Eduard von Borsody, D 1938) mit. Auf einer Expedition nach Südamerika während des Zweiten Weltkriegs blieben die Eichhorns kurzerhand in Brasilien. Franz Eichhorn führt als Francisco Eichhorn Regie bei brasilianischen Produktionen, so bei Treze Cadeiras (BR 1957), einer Verfilmung, die wie E. W. Emos Dreizehn Stühle (D 1938) an Motive des russischen Romans Zwölf Stühle angelehnt ist. Edgar Eichhorn arbeitet als Kameramann in Brasilien und Argentinien. Ab Mitte der 1950er-Jahre erscheinen deutsch-brasilianische Ko-Produktionen der Eichhorn-Brüder. Nach Deutschland kehren beide nicht mehr zurück.

Versucht man, das Leben und Filmschaffen der Brüder Eichhorn angemessen zu beschreiben, wirft das eine Reihe von Fragen auf: Wie nähert man sich einer Karriere, die auf oder zwischen zwei Kontinenten verlief? Deutsche Quellen sparen den brasilianischen Teil ihres Berufswegs aus, brasilianische Quellen ihre deutsche Vergangenheit. Inwiefern waren Filme wie Treze Cadeiras von diesen unterschiedlichen Erfahrungs- und Wissenshorizonten geprägt? Lehnte sich Eichhorns in Brasilien entstandene Adaption des sowjetischen Satireromans an die deutsche Verfilmung an? Kannten die Eichhorns Emos Version überhaupt? Welche Bedeutung hatten Vorleben und Erfahrungen in der deutschen Filmlandschaft für den brasilianischen Kontext? Wie ‹brasilianisch› sind spätere Koproduktionen mit westdeutschen Produktionsfirmen? Um dieses Wandern zwischen den Kontinenten und den verschiedenen kulturellen Einflüssen zu beschreiben, bietet sich der Begriff des Transnationalen an.

Der Fall der Eichhorn-Brüder steht (wie viele andere Biografien, Filme, Koproduktionen) für die vielfältigen Austauschprozesse, Dynamiken und Verbindungen zwischen Filmkulturen. Ihr Beispiel zeigt, dass eine transnationale Perspektive den Fokus auf Akteure lenken kann, deren Biografien in einer nationalen Filmgeschichtsschreibung kaum erwähnenswert wären, sich aus einer transnationalen Warte aber gleichwohl als prägend erweisen (vgl. Matthews 2005). Solche Phänomene lassen sich in jeder Epoche beobachten und sind auch geografisch ungebunden. Jan-Henrik Meyer verweist darauf, dass «der Begriff – und der methodische Zugang der transnationalen Geschichte den Vorteil» habe, «dass er kein territorialisierter Begriff ist, also keinen räumlichen Rahmen vorgibt. Dieser ergibt sich erst aus der empirischen Forschung» (Meyer 2014, 380). Entsprechend gilt es für den Film, den Spuren, Verflechtungen und Netzwerken zu folgen, die sich nicht nur in Produktions- und Distributionskontexten finden, sondern auch in Aufführungs- und Rezeptionsgeschichten, zum Beispiel in Form von Filmskandalen oder Aufführungsverboten. Diese sind sichtbare Zeichen filmhistorischer Ereignisse, deren Verständnis eine transnationale Perspektivierung erfordern und sich etwa im Rahmen einer public diplomacy analysieren lassen. Das Einfuhrverbot von Filmen der Produktions- und Verleihfirma von Der Weg nach Rio (Manfred Noa, D 1931), einem Vertreter des white slavery-Genres, führte seinerzeit zu dem vielleicht schwerwiegendsten kulturdiplomatischen Zerwürfnis zwischen Brasilien und Deutschland. Auch die deutsche Aufführungsgeschichte des Films wurde in Brasilien entschieden, ohne dass er dort je zu sehen war (vgl. Fuhrmann 2018). Ohne genaue Kenntnis des diplomatischen Streits zwischen den beiden Ländern wäre Der Weg nach Rio einfach ein Film, der im Sommer 1931 von den deutschen Leinwänden verschwand. Wie bereits diese beiden deutsch-brasilianischen Fälle zeigen, erweitert eine transnationale Perspektive den Blick auf die Filmgeschichte nicht nur, sondern macht Forschungsfelder überhaupt erst sichtbar.

Seit Anbeginn der Kinematografie zirkulieren Filme, Genres und Ästhetiken zwischen den Ländern und Nationen; Schauspieler*innen, Regisseur*innen und Techniker*innen reisen zwischen den (Film-) Kulturen hin und her und damit auch zwischen unterschiedlichen Produktionsbedingungen und Zuschauerpräferenzen. Forschungsfelder wie die Exilfilmforschung oder das World Cinema haben diese Verbindungen in den Blick genommen, bleiben tendenziell jedoch auf nationale Kinematografien bezogen und auf deren Verhältnis zum dominanten US-Kino. Erst mit den aufkommenden transnational film studies hat sich das Interesse auf die Dynamiken der Austauschprozesse zwischen den Ländern, Kinematografien, Personen und Institutionen verlagert, die sich über nationale (Denk-)Kategorien nur unzureichend fassen lassen. Eine transnationale Perspektive, wie wir sie mit dieser Ausgabe von Montage AV einbringen möchten, folgt dem Interesse an «links and flows, […] to track people, ideas, products, processes and patterns that operate over, across, through, beyond, above, under, or in-between polities and societies» (Iriye/Saunier 2009, xviii). Eine solche Richtung hat sich in den letzten Jahren auch in der Filmwissenschaft etabliert: Seit 2010 verfügt der Forschungszweig mit der Zeitschrift Transnational Cinemas über ein Fachjournal; 2012 wurde in der Society for Cinema and Media Studies die Transnational Cinemas Scholarly Interest Group gegründet (vgl. Fisher/Smith 2016). Zahlreiche Publikationen zu Stars, Genres oder auch zu didaktischen Fragen zeugen vom Interesse an diesem Forschungszweig (z. B. Jahn-Sudmann/ Strobel 2009; Durovicová/Newman 2010; Bennett/Marciniak 2016). 2017 fragte die Tagung «Exploring the Transnational in Film Studies» an der Universität Zürich nach der Bedeutung des Begriffs in Lehre und Forschung. Der Themenschwerpunkt dieser Ausgabe geht konzeptionell sowie in einigen Beiträgen auf diese Tagung zurück.1

Während sich der Begriff des Transnationalen in der Filmwissenschaft seit den 1990er-Jahren durchzusetzen beginnt, reicht seine Begriffsgeschichte viel weiter zurück: Pierre Yves-Saunier (2009, 17) erwähnt den französischen Ökonomen und Theoretiker Constantin Pecqueur, der bereits im Jahr 1842 transnationale Interessen als Grundlage für ein friedliches Miteinander zwischen den Nationen nennt. Im deutschsprachigen Raum taucht der Begriff erstmals 1862 beim Sprachwissenschaftler Georg Curtius auf, der damit die Verknüpfung aller Sprachen jenseits des nationalen Kontextes zu erklären suchte (vgl. Gassert 2012). Mit Randolph Bournes Plädoyer für ein «transnationales Amerika» im Jahr 1916 erlangte der Begriff erneut Bedeutung. Bourne sah die Zukunft Amerikas in der Verwirklichung eines kosmopolitischen Staates, eine Vielfalt in der Einheit, die verschiedene Ethnien beheimatet, ohne sie zu einer amerikanischen (Leit-)Kultur zu assimilieren (vgl. Saunier 2013, 17 f.; Jahn-Sudmann 2009, 19). In den 1980er- und 1990er-Jahren wurde der Begriff im Zusammenhang mit der erstarkenden Migrationsforschung wiederentdeckt (vgl. Saunier 2013, 29). ‹Globalisierung› war das Schlüsselwort, über das die Geschichtswissenschaft begann, nationale Historiografien kritisch zu hinterfragen.

In dieser Zeit, in der durch das Ende des Kalten Krieges, den Fall der Berliner Mauer, die Aufhebung der Apartheid in Südafrika und den Beginn des digitalen Zeitalters neue Zeit- und Raumkoordinaten entstanden, etablierten sich transnationale Perspektiven in einer Reihe von Wissenschaftszweigen, so auch in der Filmwissenschaft.

Die politische Dimension, die dem Begriff des ‹Transnationalen› historisch eingeschrieben ist, prägt seine filmwissenschaftliche Verwendung und die damit eng verbundene Diskussion um das ‹World Cinema› (Christen/Rothemund 2015). Das seit den 1960er-Jahren wachsende Interesse am World Cinema öffnete den Blick auf Filmkulturen jenseits von Hollywood und dem europäischen Autorenkino (Cowie 2004). Gemeinsam mit filmischen Manifesten wie Octavio Getinos und Fernando Solanas’ «Hacia el Tercer Cine» («Für ein drittes Kino»), Glauber Rochas «Uma Estética da Fome» («Eine Ästhetik des Hungers») oder Julio García Espinosas «Por un cine imperfecto» («Für ein nicht perfektes Kino») wurden Filme aus Lateinamerika, Indien oder Afrika zu politischen Kampfansagen an eine eurozentristisch und am westlichen Kino ausgerichtete Filmbranche und -öffentlichkeit. Um der weitverbreiteten Annahme entgegenzuarbeiten, dass es sich beim World Cinema um eine Art Antithese zum dominanten USamerikanischen Kino handle (Dennison/Lim 2006, 7), plädiert Lúcia Nagib (2006, 34) für eine «positive Definition» des World Cinema – als ein «polycentric cinema», eine «inclusive method of a world made of interconnected cinemas». In Nagibs Ansatz ist Hollywood nur eines von vielen Kinos, das gerade keine Sonderstellung genießt. Sie folgt damit Ella Shohats und Robert Stams Entwurf eines «polycentric multiculturalism », der es erlaubt, andere Traditionen, Kinematografien und audiovisuelle Formen zu entdecken (vgl. Shohat/Stam 1994, 7). Gerade dieses Hinterfragen von Denkkategorien und Machtverhältnissen ist es, was Nagibs Definition des World Cinema mit einem filmwissenschaftlichen Begriff des Transnationalen verbindet. Anstatt den tradierten Binarismus «The West and the Rest» weiterzuschreiben, werden über das Transnationale Veränderungen und neue Dynamiken in und zwischen den nationalen Kinematografien in den Blick genommen. Transnational cinema ist indes kein Synonym für World Cinema, wenn auch oft als solches missverstanden, sondern steht vielmehr für einen eigenen methodischen Zugang, der es erlaubt, Beziehungen zwischen nationalen Kinematografien besser zu begreifen.

Als eine der ersten Arbeiten betrachtete Hamid Naficys Publikation Phobic Spaces and Liminal Panics: Independent Transnational Film Genre (1994) das nationale Kino aus einer transnationalen Perspektive, indem er auf die Existenz eines «independent transnational cinema» verwies, «that cuts across previously defined geographic, national, cultural, cinematic, and meta-cinematic boundaries» (ibid., 1). Naficy (2001) etablierte in den folgenden Jahren den Begriff eines «accented cinema», um damit Filme zu bezeichnen, deren Ästhetik aus der Erfahrung der Vertreibung und Entwurzelung entstanden. Jahn-Sudmann (2009) führt in der Folge verschiedene Ansätze auf, die in ähnlicher Weise Migration und diasporische Erfahrungen reflektieren: angefangen mit Thomas Elsaessers «cinema of double occupancy» (2005), gemeint sind Filme von Regisseur*innen mit Migrationshintergrund oder die bereits in der zweiten Generation in einem Land leben und über eine ‹Bindestrich-Identität› verfügen, über Georg Seeßlens (2000) Konzept der ‹Métissage-Filme›, Filme der dritten und vierten Generation von Arbeitsimmigrant*innen, oder auch das «cinema of the affected», das den authentischen Erfahrungsgehalt von Gastarbeiter*innen akzentuiert (vgl. Burns 2006), bis hin zu einem sozial engagierten «cinema of duty» mit dokumentarischer Ästhetik (vgl. Malik 1996). Allen Ansätzen gemeinsam ist, dass sie aus einer politischen und zumeist von der Migrationsforschung geprägten Warte den Bezugsrahmen nationaler Kinematografien aufzubrechen suchen.

Neben dem analytischen Blick auf ein diasporisches Kino lenkt die Perspektive des Transnationalen das Augenmerk stärker noch auf Bewegungen, Verbindungen, Netzwerke, Einflüsse, Austauschprozesse und Veränderungen zwischen nationalen Kinematografien. Auf den resultierenden Mehrwert für die Filmwissenschaft verweist Andrew Higson in «The Limiting Imagination of National Cinema» (2000), den er gleichsam als Antwort auf seinen eigenen, mittlerweile kanonischen Beitrag «The Concept of National Cinema» (1989) formulierte: «[T]he concept of ‹transnational› may be a subtler means of describing cultural and economic formations that are rarely contained by national boundaries» (2000, 64). «Transnational» kennzeichnet für Higson eine Perspektive, über die sich verschiedene Phänomene beschreiben lassen: etwa Ko-Produktionen, die seit Jahrzehnten Ressourcen und Erfahrungen von verschiedenen Nationen miteinander verbinden, Vertriebsstrategien, mit denen Filme an den nationalen Markt angepasst werden, oder Rezeptionsweisen, die auf den spezifischen kulturellen Kontext zu beziehen sind, in dem Filme angeeignet werden (vgl. ibid., 67 ff.).

Mette Hjort (2010,12) führt Higsons Ausdifferenzierung weiter fort. Sie plädiert dafür, Transnationalität stärker an einen spezifischen Gegenstandsbereich zu koppeln, um nicht Gefahr zu laufen, dass der Begriff auf alles und nichts angewendet wird. Ihre Unterscheidung von neun produktionsbasierten «cinematic transnationalisms» ermöglicht es, Interessen, Absichten und ökonomische Konstellationen in den jeweiligen Ländern zu berücksichtigen und in ihrer transnationalen Ausprägung als stark («marked») oder schwach («unmarked») zu reflektieren.2 Diese Kategorien, so schreibt Rawle über Hjorts Ansatz:

[…] give us a series of ways of thinking about how films engage with the transnational on different levels, from cultural policy (affinity, milieu- building) to production (auteurist, opportunistic, globalising) and within texts themselves (epiphanic, affinitive, cosmopolitan, globalizing, modernising, experimental). Because many relate to social, political, economic, artistic and cultural values, they can intersect to different degrees and in different ways depending on how strong or weak, marked or unmarked aspects of the film are understood. (Rawle 2018, 89)

Hjort arbeitet im Zuge ihrer Kategorienbildung auch kritisch heraus, wie eng das Label des Transnationalen in politische Interessen eingebunden ist: Dem «affinitive transnationlism», der auf gemeinsame kulturelle Werte setzt und sich etwa am Beispiel des Nordic Film and TV Fund (Hjort 2010, 17 f.) beschreiben lässt, steht der «opportunistic transnationlism» gegenüber, bei dem es primär um finanzielle Interessen geht (Hjort 2010, 17 ff.).3

Mit Rückgriff auf Higson und Hjort plädiert auch Deborah Shaw dafür, den Begriff des Transnationalen genauer zu definieren, und entwickelt fünfzehn Kategorien für die Untersuchung. Sie unterscheidet «between industrial practices, working practices, aesthetics, themes and approaches, audience reception, ethical question and critical reception» (Shaw 2013a, 51).4 Ihre Kategorien arbeiten wie die von Hjort einer Pauschalisierung des Transnationalen entgegen und stellen ein Instrumentarium bereit, um die spezifischen Ebenen zu benennen, auf die sich die Analyse bezieht.5 Aufschlussreich ist, dass Shaw auch «national films» als Kategorie nennt und damit deutlich macht, dass bei der transnationalen Untersuchung immer auch nationale Aspekte zu reflektieren sind. In einem ähnlichen Sinne haben Will Higbee und Song Hwee Lim 2010 in ihrem Eröffnungsartikel zur ersten Ausgabe von Transnational Cinemas viele der angeführten Überlegungen und Ansätze zusammengefasst und einen «critical transnationalism» vorgeschlagen, der die Spannungen und die dialogische Beziehung zwischen dem Nationalen und dem Transnationalen hinterfragt. Ihre Definition eines kritischen Transnationalismus zielt nicht nur auf eine stärkere Binnendifferenzierung des Begriffs ab, sondert fordert zudem dazu auf, sich der politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Kräfte bewusst zu sein, die auf die transnationale Perspektive einwirken.

Eine solch kritische Perspektive ist nicht auf einzelne historische Epochen beschränkt. Auch wenn sich transnationale Perspektiven für die Untersuchung gegenwärtiger Filmkulturen besonders anbieten – etwa um Effekte der Digitalisierung wie die Zirkulation von Filmen im Internet zu reflektieren (vgl. Ezra/Rowden 2006, 7) –, lassen sich transnationale Aspekte bis in die Frühgeschichte der Kinematographie zurückverfolgen (vgl. Higson 2010; Dellmann/Kessler 2016).

Mit dem vorliegenden Themenschwerpunktheft von Montage AV möchten wir das Transnationale als spezifische Perspektive der Filmwissenschaft stark machen. In Anlehnung an Pierre-Yves Saunier, der von «history in a transnational perspective» spricht (2009, 4), markiert auch die transnationale Filmforschung einen spezifischen Standpunkt, von dem aus Phänomene oder Ereignisse betrachtet und analysiert werden. Die transnationale Perspektive ist, wie Dellmann und Kessler (2016, 127) es formulieren, nicht etwa einem «top-down» Ansatz verpflichtet, bei dem Untersuchungen einem theoretischen oder methodischen Rahmen zu folgen haben, sondern orientiert sich an spezifischen Situationen und Problemstellungen.

Die grundlegende Offenheit der transnationalen Filmforschung entbindet jedoch nicht davon, den jeweiligen Gegenstand konzeptuell einzuordnen, um einem inflationären Gebrauch des Begriffs ‹transnational› entgegenzuwirken. Transnationale Forschung greift auf eine Reihe etablierter Methoden der Filmwissenschaft, Soziologie, Kulturwissenschaft und Geschichtswissenschaft zurück. Wie am Beispiel von Manfred Noas Der Weg nach Rio dargelegt, kann es sich als sinnvoll erweisen, Politik- und Diplomatiegeschichte mit Distributions- und Rezeptionsgeschichte zu verknüpfen. Gerade über diese Querverbindungen können Filme in bisher übersehenen Kontexten analysiert werden – und zwar mit Hinblick auf Aspekte, die durch die Raster nationaler Denkkategorien fallen.

Die in diesem Heft versammelten Aufsätze zeigen, wie breit das Spektrum der behandelten Filme und Herangehensweisen ist – von Migrationsforschung, diasporischem Kino, der Ökonomie internationaler Filmfestivals oder auch dem Blockbuster-Kino Hollywoods. Ein zentrales Anliegen ist den Autorinnen und Autoren, die transnationale Perspektive kritisch zu hinterfragen und zu reflektieren, wie sie in einzelnen Fallstudien produktiv gemacht werden kann. Deutlich wird dabei auch, dass die Analyse transnationaler Dynamiken die Kategorie des Nationalen nicht etwa verdrängt, sondern in Beziehung dazu gesetzt wird. Durch dieses Spannungsverhältnis wird auch die politische Dimension sichtbar, die dieser Forschung inhärent ist und sie von Anfang an geprägt hat.

Den Themenschwerpunkt eröffnet Daniela Berghahns Beitrag «Exotismus im World Cinema und die transnationale Rezeption». Im Zusammenhang mit dem World Cinema macht sie deutlich, wie der Exotismus einzelner Filme nicht erst in der Rezeption durch ein westliches Publikum entsteht, sondern bereits als Strategie einkalkuliert ist. Am Beispiel asiatischer Filmemacher wie Zhang Yimou oder Hou Hsiao-Hsien analysiert sie, wie diese Regisseure einen exotisierenden Blick auf die eigene Kultur anbieten – um damit auch deren Sichtbarkeit auf internationalen Filmfestivals zu steigern. Berghahn schlägt vor, Exotismus in diesem Kontext als spezifischen Modus zu verstehen, der einerseits im filmischen Text verankert ist, andererseits im Prozess der Rezeption entsteht.

Lutz Koepnick beschäftigt sich in «Trumping the Transnational? World Cinema im Zeitalter des Populismus» mit der Frage, inwiefern das ‹Transnationale› als normative Perspektive im Licht gegenwärtiger politischer Entwicklungen noch seine Berechtigung hat. Dabei reflektiert er auch die Ideologien, die sich im akademischen Umfeld an das transnationale Kino heften, um es als ‹gutes Objekt› der Filmwissenschaft gegenüber dem nationalen Kino zu behaupten. Ins Zentrum seiner Überlegungen stellt er den Film 13 Hours (USA 2016) von Michael Bay, der zwar vordergründig einen starken US-Patriotismus und Skepsis gegenüber staatlichen Institutionen propagiert, zugleich jedoch ein internationales Publikum adressiert. Mit diesem textuell wie rezeptiv angelegten Spannungsfeld stehe Bays Film symptomatisch für ein gegenwärtiges Kino, in dem widersprüchliche Dynamiken globaler Produktions- und Distributionsverfahren sowie nativistischer Inhalte am Werk sind.

Mit einem anderen Aspekt des ‹Transnationalen› beschäftigt sich Veronika Fuechtner in «Sylvio Backs Lost Zweig (2002) und die transnationale Ästhetik von Exil und Faschismus». Am Beispiel dieses Films über die letzten Tage von Stefan Zweig in Brasilien verortet sie die Thematik des Exils im Feld des Transnationalen und legt dar, wie der Film in seiner Ästhetik nicht nur Berührungspunkte zu vergleichbaren deutschen Produktionen, sondern auch zu Traditionen des brasilianischen Kinos herstellt. Fuechtner arbeitet dabei auch die vielfältigen, mitunter ambivalenten Beziehungen zwischen Deutschland und Brasilien heraus.

Cecília Mello beschäftigt sich in «Transnationale Reisen und urbane Begegnungen in Gegen die Wand und Import/Export» eingehend mit den Filmen von Fatih Akin bzw. Ulrich Seidl, die beide im Verlauf ihrer Handlung die nationalen Hintergründe und Kontexte wechseln (Deutschland/Türkei und Österreich/Ukraine). In ihrer vergleichenden Analyse untersucht sie, wie beide Filme – insbesondere über den Einsatz von Parallelmontagen und Musik – ihre Thematik unterschiedlich reflektieren: Während Akins Gegen die Wand die Bewegung über nationale Grenzen explizit macht, lässt Seidls Import/ Export die Grenzen nahezu verschwinden.

Im letzten Beitrag des Themenschwerpunkts betrachtet Marius Kuhn in «Gescheiterte Annäherung – Der amerikanische Kriegsfilm A Time to Love and a Time to Die und seine bundesdeutsche Rezeption » Douglas Sirks Kriegsmelodrama von 1958 im Kontext der Bundesrepublik und den USA. Kuhn schlägt vor, diesen Film, der vom Zweiten Weltkrieg aus der Sicht einer deutschen Hauptfigur erzählt, in transnationaler Perspektive als Teil der damals populären bundesdeutschen Kriegsfilmwelle zu verstehen – mithin als Forum einer kollektiven Verarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit. In der unterschiedlichen Rezeption in der BRD und den USA spiegeln sich auch die ambivalenten Dynamiken zwischen beiden Ländern.

Fragen einer transnationalen Filmgeschichtsschreibung widmet sich in diesem Heft auch ein Beitrag außerhalb des Themenschwerpunkts. In unserer Reihe «Feministische Perspektiven» präsentieren wir in Erstübersetzung «Die Welt und die Suppe. Zur Historisierung von Medienfeminismen in transnationalen Kontexten» von Kathleen McHugh. Der Text erschien 2009 in der Zeitschrift Camera Obscura und wurde durch die Weise, wie er feministische Theorie mit einer transnationalen Perspektive und der Analyse von Produktions- und Förderbedingungen verknüpft, zum Ausgangspunkt für weitere Arbeiten (vgl. White 2015; Ince 2017). Mit Rückgriff auf Virginia Woolfs Reflexion auf das problematische Verhältnis von Frau und Nation entwirft McHugh die Koordinaten einer Filmgeschichtsschreibung, welche die Auswirkungen feministischer Bewegungen für den Film aus einer transnationalen Perspektive sichtbar macht. Filmmacherinnen als auteurs eines nationalen Kontexts zu verstehen, so ihre Kritik, verschleiere die vielfältigen transnationalen Netzwerke, über die Feminismus und Film miteinander verwoben sind. Stattdessen plädiert sie dafür, Generationen von Filmemacherinnen aus transnationaler Perspektive in den Blick zu nehmen. Am Beispiel von Jane Campion und Tracey Moffatt führt sie aus, wie sich strukturelle Aspekte der Filmarbeit auch als Effekte eines globalen Feminismus verstehen lassen. Das Interesse an den materiellen und strukturellen Bedingungen der Produktion teilt McHughs Text mit den production studies, die – wie zuletzt Miranda Banks pointiert hat – im Grunde eine feministische Methodologie bereithalten. Beide «resist top-down hierarchies, […] highlight production at the margins, and […] make visible hidden labor» (2018, 157).

Als Vermittlerin zwischen Kontinenten lässt sich schließlich auch Annette Michelson bezeichnen, die im September 2018 verstarb. Die US-amerikanische Kunst- und Filmtheoretikerin berichtete in den 1950er- und 1960er-Jahren als Korrespondentin aus Paris und trug maßgeblich dazu bei, Konzepte des französischen (Post-)Strukturalismus und die Namen von Roland Barthes, Michel Foucault und Jacques Derrida in den USA bekannt zu machen. In einem Nachruf erinnert Guido Kirsten an Michelson und ihren Einfluss auf die Filmwissenschaft.

«Ein Filmarchiv darf kein Friedhof für Filme sein.» Unter diesem Motto leitete Freddy Buache Jahrzehnte lang die Cinémathèque suisse und wirkte als prägende Figur der Filmvermittlung und -kultur in der Westschweiz mit starker Ausstrahlung nach Frankreich. Martin Girod erinnert an Buache, der im Mai 2019 gestorben ist.

Wolfgang Fuhrmann, Marius Kuhn und Kristina Köhler

1 Vgl. die Beiträge von Lutz Koepnick, Marius Kuhn und Cecilia Mello in diesem Heft.

2 Im Einzelnen differenziert sie die folgenden Produktionsmodi: «epiphanic transnationalism », «affinitive transnationalism», «milieu building transnationalism», «opportunistic transnationalism», «cosmopolitan transnationalism», «globalizing transnationalism », «auteurist transnationalism», «modernizing transnationalism» und «experimental transnationalism»; vgl. Hjort 2009, 15.

3 Im deutschsprachigen Raum ließen sich der deutsch-österreichisch-schweizerische Tatort oder die Programmgestaltung von 3Sat aufführen.

4 Shaw zählt folgende 15 Kategorien auf: «transnational modes of production, distribution and exhibition, transnational modes of narration, cinema of globalisation, films with multiple locations, exilic and diasporic filmmaking, film and cultural exchange, transnational influences, transnational critical approaches, transnational viewing practices, transregional/transcommunity films, transnational stars, transnational directors, the ethics of transnationalism, transnational collaborative networks, national films» (Shaw 2013a, 52).

5 Vgl. hierzu auch Marius Kuhns Aufsatz in diesem Band, der sich explizit auf Shaws Kategorien bezieht.

Literatur

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