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30 / 01 / 2021 Brasilien

Brasilien

Editorial:
Brasilien

Noel dos Santos Carvalho
Vom Stereotyp zum Cinema Negro
Die Darstellung von Schwarzen Personen im brasilianischen Kino

Oliver Fahle
Andere Szenen
Geschichte und Diskurs des zeitgenössischen brasilianischen Dokumentarfilms 

M. Elizabeth Ginway und Alfredo Luiz Suppia
Jenseits von Drittem Kino und Genrefilm:
Das Sechste Kino

Einleitung zu den Manifesten von Glauber Rocha
von Anna-Sophie Philippi

Glauber Rocha
Ästhetik des Hungers [1965]

Glauber Rocha
Ästhetik des Traums [1971]

Hannah Peuker
Somatische Grenzgänger
Die Ästhetik der Pornochanchada im Kontext
der brasilianischen Militärdiktatur

Felipe Muanis
Das Drama der Anerkennung
Teledramaturgie, Ästhetik und Repräsentation im brasilianischen Fernsehen

ARTIKELREIHE «DISPOSITIVE»

Yvonne Schweizer
Dispositive des Auditiven
Zur filmischen Kritik des retinalen Ausstellungsraums

ARTIKELREIHE «FEMINISTISCHE PERSPEKTIVEN»

Cecilia Valenti
Jane Fondas Lektionen
Zum Problem der Misogynie im militanten Kino

IN MEMORIAM

Stephen Prince
von Jens Eder

Jane Feuer
von Jana Zündel

Wolfgang Beilenhoff
von Frank Kessler

Auswahlbibliografie Wolfgang Beilenhoff

Editorial

Eine der wichtigsten Institutionen der brasilianischen Filmkultur, die Cinemateca Brasileira in São Paulo, ist schon seit Jahren in einer höchst prekären Lage. Seit Anfang 2020 spitzt sie sich weiter zu: Rechnungen können nicht mehr bezahlt und die fachgerechte Pflege des Archivs kann bestenfalls noch notdürftig gewährleistet werden. Zudem sind die Türen des bedeutendsten Filmarchivs Brasiliens für die Öffentlichkeit auf unbestimmte Zeit geschlossen. Diese Situation ist nicht etwa mit verhängten Hygiene-Vorschriften in der Corona-Krise zu erklären. Vielmehr ging der (temporären) Schließung der Cinemateca ein Konflikt zwischen deren Trägerinstitution ACERP (Associação de Comunicação Educativa Roquette Pinto), der Stiftung für pädagogische Kommunikation, und dem Kultursekretariat unter der rechtsextremen Regierung Jair Bolsonaros voraus. Die ACERP war 2018 im Zuge der Privatisierungspolitik des Interimspräsidenten Michel Temer mit der Geschäftsführung der Kinemathek betraut worden. Das Kultursekretariat, das bis Anfang 2019 noch den Status eines Ministeriums innehatte, dann aber herabgestuft und dem Tourismus-Ministerium unterstellt wurde, kündigte der ACERP Ende 2019 vorzeitig den Vertrag und stoppte die Auszahlung von Fördergeldern. Doch die ACERP akzeptierte die Beendigung des Vertrags nicht. Kultursekretär Mário Frias, ein ehemaliger Telenovela-Star, schickte im August 2020 schließlich die Polizei, um die Schlüsselübergabe in einem «filmreifen Vorgang» (Deutschlandfunk, 27.10.2020) zu forcieren. Im Frühjahr 2021 ist die Zukunft der Kinemathek nach wie vor unklar, die Gebäude sind verlassen, die Webseite wird nicht mehr aktualisiert.

Was auf den ersten Blick lediglich als bedauerliche lokale Entwicklung scheint, ist tatsächlich ein ernstzunehmendes Indiz für die grundsätzlich destruktive Kulturpolitik der Regierung unter Bolsonaro (El País, 29.07.2020). Die Cinemateca Brasileira verfügt nämlich mit über 250.000 Filmrollen und über einer Million Dokumenten wie Plakate und Drehbücher über die wichtigste Sammlung des audiovisuellen Erbes Brasiliens, wenn nicht gar Lateinamerikas. Nicht nur große Teile der Filmografie von Glauber Rocha (1939–1981), dem wohl international bekanntesten und politisch engagiertesten Filmemacher des Landes, werden hier archiviert, sondern auch Werke historisch marginalisierter Regisseur:innen wie Zózimo Bulbul, Adélia Sampaio oder Ana Carolina.1

Wenngleich sich die Lage seit Bolsonaros Amtsantritt unverkennbar verschärft hat, ist das kulturelle Erbe Brasiliens aber schon länger bedroht. Insbesondere die Lebenswelten und Kulturen der Indigenen und der Schwarzen2 Bevölkerung werden systematisch marginalisiert oder aus einer Weißen Perspektive definiert (Carelli zit. n. Cesar et al. 2017). In der allgemeinen Sorge um die Zukunft eines so renommierten Archivs wie der Cinemateca Brasileira darf das Hinterfragen von dessen inhärenten Ausgrenzungsmechanismen nicht vernachlässigt werden: Wessen Erbe wird hier eigentlich bedroht und wer reklamiert für sich die Deutungshoheit darüber? Angesichts der bis 1888 legalen Sklaverei in Brasilien und des bis heute offensichtlichen Alltagsrassismus kann man bloß erahnen, wie groß die historiografischen Leerstellen und Verzerrungen in den staatlichen Archiven auch heute noch sind.

Die audiovisuelle Kultur Brasiliens hat jedoch weit über den Streit um die Kinemathek hinaus in den vergangenen Jahren einen Politisierungsschub erlebt. Zahlreiche Dokumentarfilme wie Democracia em Vertigem (Am Rande der Demokratie, Petra Costa, BR 2019), O Processo (The Trial, Maria Ramos, BR 2018) und Golpe (Luiz Alberto Cassol & Guilherme Castro, BR 2018) untersuchen kritisch die Hintergründe des umstrittenen Amtsenthebungsverfahrens gegen Dilma Rousseff, die 2016 nach fünfjähriger Präsidentschaft aus dem Amt gedrängt wurde. Die beiden erstgenannten sind über Streaming-Plattformen auch einem internationalen Publikum zugänglich. Ein weiteres Beispiel ist die öffentliche Debatte um die Netflix-Produktion O Mecanismo (Der Mechanismus, bislang zwei Staffeln, 2018–2019), welche den milliardenschweren Korruptionsskandal Lava Jato (Car Wash) um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras, mehrere private Bauunternehmen und zahlreiche politische Akteur:innen zum Thema hat. Vertreter:innen der Staatsanwaltschaft sehen in dem ehemaligen sozialistischen Präsidenten Luiz Inácio «Lula» da Silva (2003–2011) und dessen Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) wichtige Drahtzieher:innen und Profiteur:innen. Die Regie in O Mecanismo führte José Padilha, der international mit dem Actionfilm Tropa de Elite (BR/USA/ARG 2007) bekannt wurde und heute als indirekter Unterstützer des rechtsextremen Bolsonaro-Regimes gilt (Vieira/Rich 2020). Insbesondere Padilhas Umgang mit historischen Fakten und die fehlerhafte Chronologie der ‹realen Ereignisse›, auf die sich die Serie beruft, sorgten für Kontroversen, die vor allem Anhänger:innen der politischen Linken anstießen. So seien der fiktiven, an den Ex-Präsidenten Lula angelehnten Figur João Higino Zitate in den Mund gelegt worden, die gar nicht von dessen Vorbild geäußert worden seien. Lula kündigte rechtliche Schritte gegen Netflix an und es wurde öffentlich zum Boykott des Streaming-Anbieters aufgerufen (Deutsche Welle, 27.03.2018 und 29.03.2018).

Dass audiovisuelle Medien und Politik in Brasilien schon seit jeher in einem ambivalenten, wechselseitigen Verhältnis stehen, zeigt nicht zuletzt der Blick in die Geschichte. So wuchs beispielsweise der Fernsehsender Rede Globo als Verbündeter des Militärregimes zu einem der weltweit größten Medienkonglomerate heran. Das Kerngeschäft des Senders – damals wie heute – besteht in Produktion und Vertrieb von Telenovelas. Diese täglich gesendeten Serien sind in ganz Lateinamerika ausgesprochen populär und behandeln Themen wie Kriminalität, sozialen Auf- und Abstieg oder Homophobie, die auf den nationalen Kontext zugeschnitten sind.3 Nicht selten bestimmen sie den Rhythmus des politischen Alltags, so wenn etwa ein Telenovela-Finale Anlass für die Verschiebung von Wahlkampfveranstaltungen gibt (wie 2012 beim Finale von Avenida Brasil [Rede Globo, 2012]).

Die Inanspruchnahme audiovisueller Medien war dabei jedoch nie einem politischen Lager vorbehalten: Sowohl konservative wie auch progressive Akteur:innen wussten audiovisuelle Medien häufig für die eigenen Interessen einzusetzen. Das im internationalen Forschungskontext wohl bekannteste Beispiel ist das Cinema Novo, das in den 1960er-Jahren eine Form des Widerstandes gegen Armut und bald auch gegen die Militär diktatur darstellte und sich die politische Mobilisierung der Bevölkerung zum Ziel setzte. Insbesondere durch die Teilnahme an Filmfestivals wie Cannes oder Berlin gelang es den Filmschaffenden, auch außerhalb Latein- amerikas Aufmerksamkeit für Menschenrechtsverletzungen in Brasilien zu wecken und dadurch politischen Druck auf die eigene Regierung auszuüben. Um die staatliche Zensur zu umgehen, entwickelten die Filmemacher: innen häufig eine allegorische Erzählweise (Xavier 1999). Nichtsdestotrotz gehört zur Geschichte des Cinema Novo, dass es – wenngleich sicherlich aus pragmatischen Gründen – in beachtlichem Umfang von der staatlichen Filmförderung profitierte. So wurde die Produktion der späten Cinema-Novo-Filme A Idade da Terra (Das Alter der Erde, Glauber Rocha, BR 1980) und Eles Não Usam Black-Tie (They Don’t Wear Black Tie, Leon Hirszman, BR 1981) von der staatlichen Filmförderanstalt Embrafilme zu hundert Prozent finanziert (Johnson 1984, 10).

Die konservativen diktatorischen Machthabenden hingegen versuchten stets, die audiovisuellen Medien zur Volkserziehung zu nutzen, und griffen mit Zensurmaßnahmen entscheidend in das Produktionsgeschehen ein. So wurde bereits in den 1930er-Jahren unter dem Diktator Getúlio Vargas eine enge Beziehung zwischen Staat und Kino etabliert. Vargas ließ das Instituto Nacional do Cinema Educativo (INCE) gründen, das den Auftrag hatte, Propaganda- und Erziehungsfilme zu produzieren und den heimischen Markt durch ein Quotensystem vor ausländischen Produktionen zu schützen (Ferreira Leite 2005, 39).4 Etwa zeitgleich, im Jahr 1939, wurde eine staatliche Zensuranstalt eingerichtet, die explizit auch die Filmproduktion überwachte – eine Maßnahme, die nach einer kurzen demokratischeren Phase 1968 durch das Militärregime noch verschärft wurde (Shaw/Dennison 2007). Paradoxerweise begünstigten die Zensurmaßnahmen während der konservativen Militärdiktatur die explosionsartige Zunahme von Filmen, insbesondere von Sexploitation-Komödien, sogenannten Pornochanchadas, die eigenwillige Titel tragen wie A Árvore dos Sexos (Sílvio de Abreu, BR 1977) oder Como é Boa Nossa Empregada (Victor di Mello & Ismar Porto, BR 1973).5

Das brasilianische Kino steht außerdem seit seiner Entstehung in einem postkolonial geprägten Spannungsfeld, das sich insbesondere mit dem Einfluss Hollywoods konfrontiert sieht. Eng daran angeknüpft ist die Frage nach einer nationalen Filmästhetik. Gerade auch durch die enge Verzahnung mit Fragen des Postkolonialen und Nationalen scheint das brasilianische Kino in Europa, wo Migrationsbiografien und Grenzziehungen gegenwärtig besonders stark diskutiert werden, neuen Einfluss zu gewinnen. In den letzten Jahren wurden Filme aus Brasilien wie Aquarius (Kleber Mendonça Filho, BR/F 2016), Bacurau (Juliano Dornelles & Kleber Mendonça Filho, BR/F 2019), Todos os Mortos (All die Toten, Caetano Gotardo & Marco Dutra, BR/F 2020),Chuva é Cantoria na Aldeia dos Mortos (The Dead and the Others, Renée Nader Messora & João Salaviza, BR/PT 2018) und A Febre (The Fever, Maya Da-Rin, BR/PT/D 2019) auf internationalen Filmfestivals breit rezipiert. Im Jahr 2020 zeigte die Berlinale so viele brasilianische (Ko-)Produktionen wie nie zuvor. Der Grund für diese international wahrnehmbare Eruption ästhetisch vielfältiger und politisch engagierter Werke wird in der Kulturpolitik der ehemaligen sozialistischen Präsident:innen Lula da Silva und Dilma Rouseff gesehen (Vieira/Rich 2020; Brizuela/Monassa 2020, 67). Diese Politik gewährte Künstler:innen schließlich auch einen niedrigschwelligen Zugang zu finanzieller Förderung – eine Ressource, die es trotz der sich seit 2015 verschärfenden gesellschaftlichen Spaltung und auch noch nach der Wahl Bolsonaros ermöglichte, politische Ereignisse mit filmischen Mitteln zu reflektieren.

Bemerkenswert an der gegenwärtigen Welle brasilianischer Filme in europäischen Vorführkontexten ist, dass sich das vermittelte Bild Brasiliens dadurch in mehrfacher Hinsicht diversifiziert. Zusätzlich zu den Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro, die lange unhinterfragt die Produktionszentren waren, werden zunehmend Alternativen angeboten: Viele in den letzten Jahren gegründete professionelle Filmproduktionskollektive sind in der Peripherie von Großstädten wie Brasília (z. B. Ceicine) oder Belo Horizonte (z. B. Filmes de Plástico) verortet. Porto Alegre im Süden und Recife im Nordosten bilden neue urbane Gegengewichte zu den traditionellen Produktionsstandorten. Mit diesen Verschiebungen geht die Pluralisierung von Perspektiven, Entwürfen und Erzählungen brasilianischer Realitäten einher. Der Drang nach Selbstrepräsentation motiviert viele gegenwärtige Filmschaffende des Landes (Brizuela/Monassa 2020). So ist nicht zuletzt die künstlerische Emanzipation Schwarzer, Indigener und queerer Filmschaffender zu beobachten, die von der Suche nach einer eigenen performativen Filmästhetik angetrieben werden (Augusto 2020). Neben der Verfügbarkeit von kostengünstiger Aufnahmetechnik spielt hierbei auch der demokratisierte Zugang zu Fördermitteln eine wesentliche Rolle, der es insbesondere Nachwuchsfilmschaffenden erleichtert, Projekte zu finanzieren (Vieira/Rich 2020, 14).

Nicht selten werden dabei Motive der brasilianischen Filmgeschichte aufgegriffen, etwa wenn das Cinema Novo und insbesondere die Werke von Glauber Rocha als anhaltende Inspirationsquellen dienen. Die steppenartige Szenerie von Bacurau beispielsweise, die «Sertão» genannte Wüstenlandschaft im Nordosten Brasiliens, wird erst mit der Referenz auf den Sertão des frühen Cinema Novo als spezifischer Raum des Widerstands lesbar. Filme wie Meu Corpo é Político (My Body Is Political, Alice Riff, BR 2017), Sol Alegria (Tavinho Teixeira, BR 2018) oder Tragam- me a cabeça de Carmen M. (Bring Me the Head of Carmen M., Felipe Bragança & Catarina Wallenstein, BR/PT 2019) knüpfen an die spätere, tropikalistische Phase des Cinema Novo an und reaktualisieren die Idee eines künstlerischen ‹Kannibalismus› (Figueria 2018; Pitanga 2019; Lopes 2020). Der sonst zumeist negativ konnotierte Begriff Kannibalismus ist im brasilienspezifischen Kunstkontext als produktive Metapher für eine postkoloniale ästhetische Strategie zu verstehen, die sich in der collageartigen Aneignung fremder Kulturprodukte und grotesken Ästhetiken der Einverleibung äußert. Tragam-me a Cabeça de Carmen M. (aus dem das Titelbild dieses Hefts stammt) beispielsweise greift den Mythos der Carmen Miranda auf, einer erfolgreichen Samba-Sängerin, die in den 1940er- und 1950er-Jahren ihre bunte, multikulturelle Idee von Brasilianität und Tropikalismus nach Hollywood exportierte (Wulff 2020). Bis heute ist sie eine polarisierende Figur der brasilianischen Popkultur. Braganças und Wallensteins Film stellt den Versuch dar, Mirandas produktivem Umgang mit intertextuellen Bezügen nachzuspüren. Gleichzeitig verweist der Film durch seinen Titel, der auf Sam Peckinpahs Western Bring Me the Head of Alfredo Garcia (USA/MEX 1974) anspielt, auf die Bedrohung von brasilianischen Künstler:innen angesichts der sich zum Zeitpunkt der Filmproduktion abzeichnenden Wahl des Rechtsextremisten Jair Bolsonaro.

Wie groß das internationale Interesse gerade an solchen rebellischen Filmen kollektiv organisierter, feministischer, Schwarzer und Indigener (Nachwuchs-)Filmemacher:innen aus Brasilien ist, belegt die Filmreihe New Brazilian Cinema des Streaming-Anbieters MUBI (Juni–September 2020), die auch in Deutschland verfügbar war. Sich als nicht-brasilianische Zuschauer:in mit dem brasilianischen Kino zu beschäftigen, endet nicht mit der Erfahrung ästhetischer Neuentwürfe einer jungen, überaus produktiven Generation Filmschaffender. Wer dieses Kino rezipiert, wird Zeug:in einer Emanzipationsbewegung geografisch und sozial marginalisierter Gruppen und kann so einen vielschichtigen Eindruck von Brasilien entwickeln.

Dass in Deutschland vor allem das brasilianische Kino wahrgenommen und diskutiert wird, und weniger das Fernsehen oder die Serienproduktion, hängt besonders mit dem Einfluss jener Filmfestivalzirkel und der Zunahme internationaler Koproduktionen zusammen, die die Laufbahnen der Filme lenken. Auf ihrem Weg über den Globus haben jedoch auch brasilianische Telenovelas ihre Spuren im deutschen Fernsehprogramm hinterlassen. Die Produktion A Escrava Isaura (Die Sklavin Isaura, 1976–1977) des Fernsehsenders Rede Globo wurde beispielsweise im Zuge der Unterhaltungsoffensive der öffentlich-rechtlichen Sender von der ARD eingekauft und in synchronisierter und gekürzter Fassung in den 1980er-Jahren gesendet. Die globale Zirkulation von Telenovelas in dieser Zeit kann gar als «Kulturimperialismus» unter umgekehrten Vorzeichen diskutiert werden (Rogers/Antola 1985). Dass es brasilianische Telenovelas auf dem deutschen Markt jedoch trotzdem schwer haben, zeigt sich daran, dass die bisher erfolgreichste nationale Produktion, Avenida Brasil (Rede Globo 2012), die in rund 130 Länder exportiert und in vielen Sprachen synchronisiert wurde, in Deutschland bislang nicht zu sehen war.

«Brasilien ist Gegenstand unseres Nachdenkens und Provokation für unser Denken», diagnostizierte kürzlich der Historiker Timo Luks (2020, 54) und erklärt damit, ungeachtet der häufigen Unbekanntheit einzelner Produktionen, das europäische Interesse an Brasilien als Modellraum, in dem sich gesellschaftliche Hoffnungen und Katastrophen überlagern. Mit der in den letzten Jahren vorangetriebenen Übersetzung wichtiger brasilianischer Werke, wie etwa jene des Schriftstellers Oswald de Andrade (2016; 2017), des Anthropologen Eduardo Viveiros de Castro (2017 [2011]; 2019 [2009]) und der Kulturkritikerin und Psychoanalytikerin Suely Rolnik (2019) dringen beispielsweise die theoretischen und philosophischen Dimensionen des Konzepts der Anthropophagie (des rituellen Kannibalismus) in hiesige Diskurse ein. An der gemeinschaftsstiftenden Praxis des Indigenen Kannibalismus lassen sich dabei relevante kulturelle Differenzen aufzeigen, denn in ihr verbirgt sich eine spezifische Konzeption von Welt: Während im westlichen Denken primär Verwandtschaftsbeziehungen und Subjekt-Objekt-Relationen die Welt strukturieren, treten in der Indigenen Kosmologie an ihre Stelle Relationen von Jäger:innen und Beute sowie der Einverleibung und Verdauung. Die Indigene Anthropophagie lässt sich daher nicht auf das Essen von Menschen verkürzen, sondern sollte – laut Andrade und Viveiros de Castro – als symbolische und konkrete Aneignung des Fremden begriffen werden. Eine Auseinandersetzung mit dieser Denkweise ermöglicht es, auch medientheoretisch im europäischen Raum längst etablierte Begriffe wie beispielsweise «Perspektive», «Körperlichkeit» oder «Intertextualität» etwa im Sinn von «Strategien der Einverleibung» neu zu denken und so westlich geprägte Konzeptionen zu hinterfragen und zu bereichern (Hiebert Grun 2020, 18).

Die Forschung zum brasilianischen Kino wurde bislang vom Cinema Novo dominiert – auch in Deutschland (z. B. Alves Hengstl 2006; Schulze 2005; 2015; Fuhrmann 2016). Daneben wurden brasilianische Film- und Fernsehgenres zumeist in transnationalen Forschungskontexten untersucht (z. B. Klein/Ritzer/Schulze 2012; Michael 2010; 2017). Die vorliegende Ausgabe von Montage AV stellt den Versuch dar, dem Diskurs bislang weniger beachtete Facetten hinzuzufügen und dadurch hiesige Betrachtungen zur Medienkultur Brasiliens zu intensivieren und zu vervielfältigen. Sie knüpft dabei insbesondere an jüngste Publikationen im englischsprachigen Raum an (wie z. B. Film Quarterly 74,2, 2020 mit dem Dossier «New Brazilian Cinema: Aesthetics and Emergencies from Lula to Dilma to Bolsonarismo» oder Screen 60,1, 2019 mit dem Dossier «Intermediality in Brazilian Cinema: The Case of Tropicália»).

Die Autor:innen der in unserem Heftschwerpunkt versammelten Aufsätze forschen an Instituten in Brasilien, in den USA und in Deutschland. Ihre Beiträge werfen Schlaglichter auf vergleichsweise selten beachtete Phänomene und vermitteln neue Impulse. So gibt Noel dos Santos Carvalho in seinem Aufsatz einen panoramatischen Überblick über die Darstellungsweisen von Schwarzen im brasilianischen Kino seit dem frühen 20. Jahrhundert bis heute. Er arbeitet dabei grundlegende Tendenzen heraus, skizziert historische Entwicklungen und stellt Bezüge zu den spezifischen soziohistorischen Kontexten her, was nicht nur die lange Phase rassistischer Stereotype, sondern auch die Entstehung eines selbstbewussten Schwarzen Kinos in Brasilien erklären kann.

Ähnlich lenkt auch Oliver Fahle in seinem Beitrag zum brasilianischen Dokumentarfilm den Blick auf einen von der internationalen Filmwissenschaft noch zu wenig beachteten Bereich der vielgestaltigen Filmlandschaft. Er betrachtet die Entwicklung des Dokumentarfilms vor dem Hintergrund von Cinema Novo und Cinema da Retomada und legt dar, wie der Dokumentarfilm das durch die erfolgreichen Spielfilme vermittelte Bild von Brasilien zu ergänzen und zu korrigieren vermag. An zwei medien-reflexiv angelegten neueren Vertretern der Gattung kann er zeigen, wie diese filmtheoretisch und kulturwissenschaftlich zentrale Diskurse um Identität, Alterität und medial vermittelte Erfahrung aufgreifen und auf neuartige Weise verhandeln.

M. Elizabeth Ginway und Alfredo Suppia durchsuchen die neuere brasilianische Filmszene nach Beispielen innovativer Trends. Sie stoßen dabei auf Filme, die eine spezifische Gemeinsamkeit aufweisen: eine Mischung aus traditionellen populären Genre-Element und einer präzisen, oft semidokumentarischen Sozialkritik. Zwei Filme unterziehen sie einer genaueren Analyse: Trabalhar cansa (Hard Labor, Marco Dutra & Juliana Rojas, BR 2011) und Branco sai, preto fica (White Out, Black In, Adirley Queirós, BR 2014). Fazit des Beitrags ist die Definition eines nach brasilianischer Zählung «Sechsten Kinos».

Ginway und Suppia vertreten in diesem Zusammenhang die These, dass die Arbeit junger unabhängiger Filmemacher:innen in Brasilien nach wie vor von den Manifesten des sogenannten «Dritten Kinos» beeinflusst sei. Zwei dieser Manifeste präsentieren wir in dieser Ausgabe in deutscher Übersetzung: Glauber Rochas berühmte «Ästhetik des Hungers» von 1965, sowie seine «Ästhetik des Traums», in der er sich sechs Jahre später kritisch auf den früheren Text bezog. Vorangestellt ist den Manifesten eine kurze Einleitung von Anna-Sophie Philippi.

Einem der publikumswirksamsten Genres des brasilianischen Kinos, der Pornochanchada, widmet Hannah Peuker ihren Beitrag. Indem sie das Genre aus seiner sonst oft marginalisierenden und meist negativ konnotierten Forschungsliteratur herauslöst und einen Anschluss an affektive Diskurse vorschlägt, arbeitet Peuker heraus, welche Relevanz die filmische Darstellung von Körperlichkeit für die Verhandlungen politischer Konflikte in den 1970er-Jahren in Brasilien hatte.

Ausgehend von einem Verständnis des Fernsehens als komplexes, kulturelles Phänomen skizziert Felipe Muanis die wesentlichen Charakteristika dieses für die brasilianische Öffentlichkeit so zentralen Mediums. Unter dem Konzept der Televisiografie schlägt er einen entsprechend multidimensionalen Zugriff vor, der gezielt über die Analyse einzelner Programminhalte hinausreicht. Er verknüpft dabei die historische Genese des Fernsehens in Brasilien mit dessen ambivalentem Verhältnis zur Politik sowie mit der melodramatischen Grundstruktur der Sendungen.

Außerhalb des Schwerpunkts und im Rahmen unserer «Dispositive»-Reihe beleuchtet Yvonne Schweizer anschließend die Aufführung experimenteller Filme während der documenta 6 (1977), wobei sie sich vor allem mit der Dimension des Tons auseinandersetzt. Am Beispiel von Werken Birgit und Wilhelm Heins und Paul Sharits’ sowie einer Videoinstallation von Vito Acconci erläutert die Autorin, dass Entscheidungen bezüglich der Platzierung der tongenerierenden Elemente des Dispositivs in Ausstellungen audiovisueller Installationen einen zentralen Stellenwert einnehmen.

Unsere Reihe «Feministische Perspektiven» wird mit einem Beitrag von Cecilia Valenti fortgesetzt, die misogyne Bildproduktionen im cinéma militant nach 1968 analysiert. Am Beispiel von Jean-Luc Godards und Jean-Pierre Gorins Letter to Jane (F 1972) identifiziert Valenti Bildmontagen, die Frauenkörper mit Warenfetisch und kapitalistischem Spektakel gleichsetzen, und betrachtet die einstigen Helden des linksradikalen Kinos als paternalistische mansplainer (avant la lettre). Zugleich sieht die Autorin in Jane Fonda ein Rollenmodell feministischer Körperpolitik, das in Zeiten des Lockdowns unerwartete Aktualität erhält.

In diesem Heft gedenken wir drei Filmwissenschaftler:innen, die in den vergangenen Monaten verstorbenen sind: An den amerikanischen Filmkritiker, Historiker und Theoretiker Stephen Prince, der am 30. Dezember 2020 starb, erinnert Jens Eder in seinem Nachruf; Jana Zündel gedenkt der am 8. Januar 2021 verstorbenen Film- und Fernsehforscherin Jane Feuer; und Frank Kessler verabschiedet sich von Wolfgang Beilenhoff, dem Experten für das russische Kino und die russische Filmtheorie, der zur ersten Generation von Montage AV-Redakteur:innen zählte, und der am 24. Februar den Folgen einer Covid-19-Erkrankung erlag; ergänzt wird dieser Nachruf um eine Bibliografie von Beilenhoffs Schriften, die Hans J. Wulff besorgte.

Zuletzt noch eine gute Nachricht: Ab dieser Ausgabe ist Montage AV auch als E-Book erhältlich (unter anderem über die Verlags-Homepage: www.schueren-verlag.de). Wir wünschen viel Spaß bei der Lektüre, ob auf Papier oder am Screen.

Anna-Sophie Philippi (als Gastherausgeberin)
sowie Guido Kirsten und Laura Katharina Mücke (für die Redaktion)

1 Zózimo Bulbul wird heute als wichtiges Vorbild für die Bewegung des Cinema Negro in Brasilien betrachtet, während Adélia Sampaio als die erste Schwarze Regisseurin Brasiliens gilt (vgl. den Beitrag von Noel Santos de Carvalho in diesem Heft). Ana Carolina steht beispielhaft für die erste Generation weiblicher Regisseur:innen in Brasilien in den 1970er-Jahren.

2 Wir schreiben «Schwarze», «Indigene» und «Weiße» Menschen mit einem Großbuchstaben, um zu verdeutlichen, dass es sich bei diesen Termini um kulturelle Bezeichnungen und gesellschaftlich, historisch tradierte Machtverhältnisse handelt und nicht bloß um eine Frage der natürlichen Pigmentierung.

3 Vgl. den Beitrag von Felipe Muanis in diesem Heft.

4 Die Filmkunst erreichte Brasilien durch europäische Immigrant:innen im Jahr 1896. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg dominierten nordamerikanische Importe mit einem Anteil von 85,9 % den brasilianischen Kinomarkt (Shaw/Dennison 2007, 17 ff.).

5 Vgl. den Beitrag von Hannah Peuker in diesem Heft.

Literatur

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