13/02/2004
Juri Lotman – Das Gesicht im Film

Editorial (PDF 1 MB)

Carl Plantinga
Die Szene der Empathie und das menschliche Gesicht im Film (PDF 833 kB)

Hermann Kappelhoff
Unerreichbar, unberührbar, zu spät.
Das Gesicht als kinematografische Form der Erfahrung
(PDF 1,2 MB)

Petra Löffler
Eine sichtbare Sprache
Sprechende Münder im stummen Film
(PDF 1,8 MB)

Thomas Meyer
„Gesichtsverlust“ versus Resemantisierung
Überlegungen zum Gesicht des Arbeiters im Nationalsozialismus anhand einiger Filme von Walther Ruttmann
(PDF 134 kB)

Juri Lotman
Der Platz der Filmkunst im Mechanismus der Kultur (PDF 124 kB)

Juri Lotman
Die Natur der Filmerzählung (PDF 605 kB)

Juri Lotman
Über die Sprache der Trickfilme (PDF 96 kB)

Vinzenz Hediger
«The Equivalent of an Important Star»
Zur Rhetorik der Selbstpromotion in den Kinotrailern Cecil B. DeMilles

(PDF 1,6 MB)

Margrit Tröhler
Filmische Authentizität
Mögliche Wirklichkeiten zwischen Fiktion und Dokumentation
(PDF 261 kB)

Editorial

Mit diesem Heft der Montage/AV beschließen wir den von den Gastherausgebern Joanna Barck und Wolfgang Beilenhoff in der letzten Ausgabe gesetzten Themenschwerpunkt zum „Gesicht im Film“. Zugleich präsentieren wir unseren Lesern, ganz in der Tradition der Zeitschrift, ein neues Dossier mit theoriehistorisch interessanten, aber in deutscher Sprache bislang unveröffentlichten Texten von Juri Lotman, der im russischen Sprachraum und darüber hinaus für ganz Osteuropa der wohl wichtigste Semiotiker des Films war. Mit den Aufsätzen von Margrit Tröhler und Vinzenz Hediger, die außerhalb beider Themenbereiche stehen, knüpfen wir schließlich an laufende Diskussionen in der Film- und Medienwissenschaft an.

Wie die letzte Ausgabe, so präsentiert auch das aktuelle Heft eine deutsche Erstübersetzung, die hinsichtlich der Problemstellung einer sekundären Inszenierung des Gesichts von besonderem Interesse ist. Diesmal stellen wir mit Auszügen aus dem von Carl Plantinga und Greg M. Smith herausgegebenen Buch Passionate Views einen kognitions- und emotionspsychologischen Ansatz vor. Eine Szene der Empathie, so nennt Plantinga diejenigen Passagen eines Films, in denen dessen Erzählfluss an Tempo verliert, die inneren Erlebnisse einer Figur an Wichigkeit gewinnen und dabei das Gesicht dieser Figur, typischerweise in Großaufnahme, eine bedeutende Rolle spielt. Hier müsse mehr beabsichtigt sein, als uns nur über die Gefühle einer Figur zu informieren. Plantinga versteht diese Szenen als eine Möglichkeit, auf die affektiven Prozesse des Zuschauers einzuwirken. Welche Bedingungen diese Prozesse ermöglichen, welche Phasen sich unterscheiden lassen und welche Inszenierungsformen das affektive Potential von Gesichtern in Filmen steigern können, davon handelt Plantingas Beitrag, der den Themenschwerpunkt zum „Gesicht im Film“ eröffnet.

Auch Hermann Kappelhoff interessiert sich für das Gesicht als Ausdruck des Gefühls, aber im Sinne von Béla Balázs´ Filmtheorie, die sich, so Kappelhoff, in ihren Prämissen ihrerseits aus den ästhetischen Konzeptionen des bürgerlichen Schauspiels und des Bildbegriffs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herleiten lässt. Kappelhoff verfolgt die Illusion des lebendigen physiognomischen Ausdrucks von der Bühne der Empfindsamkeit bis zum melodramatischen Kino und zeigt schließlich am Beispiel von CAMILLE (USA 1936, George Cukor), wie sie mit weiblichen Starimages zusammengeht.

Der Text von Petra Löffler geht von der Beobachtung aus, dass das Sprechen im Stummfilm eingesetzt wird, um Affekte als mimische Ausdrucksbewegungen sichtbar werden zu lassen. Formalisierungen unter dem Stichwort „sekundäre Inszenierung“ zielen darauf, die Sprechbewegungen des Gesichts als primären Ausdruck von Emotionen zu deuten. Für den Stellenwert solcher Artikulationsbewegungen im Stummfilmkino spräche, so Löffler, nicht zuletzt die Aufmerksamkeit, die ihnen die junge Filmtheorie im Anschluss an die wissenschaftliche Psychologie des 19. Jahrhunderts, namentlich Wilhelm Wundts, beimisst. Schließlich bemüht sich Thomas Meyer anhand von Ruttmanns Filmen ACCIAIO (I 1933), MANNESMANN (Deutschland 1936/1937) und DEUTSCHE PANZER (Deutschland 1940) um erste Antworten auf die Frage, wie das Arbeitergesicht im Industriefilm nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten umkodiert und für eine Rhetorik der Rationalisierung in Dienst genommen wurde – eine Strategie, die darauf abzielte, die Arbeiterschaft in die Kriegsvorbereitungen einzubinden und allfällige Widerstandspotentiale zu neutralisieren.

Den Anlass für die Publikation von Lotmans Texten bietet kein runder Geburts- oder Todestag, sondern vielmehr die Qualität der Texte selbst. Zum einen können insbesondere die beiden Aufsätze Der Platz der Filmkunst im Mechanismus der Kultur (1977) und Über die Sprache der Trickfilme (1978) als Zeugnisse eines semiotischen Diskurses gelesen werden, dessen kultur- und filmwissenschaftliche Reflexionen noch wesentlich vom zentralen Paradigma „Sprache“ geprägt waren. Zum anderen enthalten sie Anregungen, die sich für die aktuelle Theoriebildung fruchtbar machen lassen.

Wenn Lotman nicht nur dem Filmmedium, sondern auch einzelnen Filmen und Szenen einen Platz im „Mechanismus der Kultur“, die er vor allem als System verschiedener Sprachtypen versteht, zuerkennt, so weist dies auf eine grundlegende Eigenart von Lotmans Denken hin: auf seine Fähigkeit, nicht nur typologische Alternativen herauszuarbeiten, sondern sich vor allem für jene Momente zu interessieren, in denen sich Antinomisches gleichzeitig realisiert. Wenn Lotman zum Beispiel das Hin- und Herpendeln zwischen unterschiedlichen historischen Modi kultureller „Sprachen“ – zwischen der mythologischen Sprache und der postmythologischen Kunstsprache – als eine Grundlage für filmische Ironie beschreibt, so tritt diese Eigenart von Lotmans Denken deutlich hervor.

In dem in Lotmans Todesjahr erstpublizierten Text Natur der Filmerzählung (1994) ist ein solch changierendes rezeptives Bewusstsein für die narrative Potenz des Films wesentlich. Der Zuschauer erkenne der vom Film präsentierten Handlung „Realität“ zu und fasse sie doch im selben Moment auch als eine „Erzählung über die Realität“ auf. Erst dieses doppelte Bewusstsein ermögliche Narration. Und erst die Überzeugung der Rezipierenden, dass ihnen etwas mit einem bestimmten Ziel und Sinn gezeigt wird, schaffe den entscheidenden Unterschied zwischen der Rezeption von Filmbildern und dem Blick aus dem Eisenbahnfenster. Lotmans Überlegungen erscheinen wie ein Kommentar zu den aktuellen Ideen der totalen Immersion und Simulation, aber etwa auch zu der von David Bordwell und anderen Autoren vertretenen These über eine Film-Narration, hinter der keine narrative Instanz mehr spürbar sei.

Zwei Aufsätze außerhalb der beiden Themenschwerpunkte beschließen die aktuelle Ausgabe von Montage/AV. Margrit Tröhler geht von der heute oft geäußerten Feststellung aus, dass der Status des nichtfiktionalen Bildes im digitalen Zeitalter ungewiss geworden sei. Sie zeigt in einer film- und theoriegeschichtlichen Perspektive, dass dieser de facto nie wirklich gesichert war, dass aber gerade heutige Filme im Grenzbereich zwischen Fiktion und Nichtfiktion einen Effekt filmischer Authentizität entstehen lassen, der eine mögliche Wirklichkeit skizziert und so auch das pragmatische Verhältnis der Zuschauer zu den Filmbildern affiziert. Vinzenz Hediger beschäftigt sich am Beispiel von Cecil B. DeMille mit dem Phänomen der Selbstpromotion. DeMille trug zu den Werbemaßnahmen seiner Filme entscheidend bei, indem er sich selbst im Promotiondiskurs als Markenzeichen und Qualitätsbürge inszenierte. Hediger unterzieht DeMilles Trailer einer rhetorischen Analyse; er untersucht die Vorfilme als Elemente einer übergreifenden Vermarktungsstrategie und zeigt auf, was und wie sie kommunizierten.

Unser Dank gilt auch in dieser Ausgabe dem Filmmuseum Berlin – Deutsche Kinemathek und insbesondere Peter Latta für die Überlassung des Bildmaterials.

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