18/01/2009
Warum Bazin

Editorial (PDF 85 kB)

Thomas Elsaesser
Ein halbes Jahrhundert im Zeichen Bazins (PDF 134 kB)

Dudley Andrew
Bazin Phase 2:
Die unreine Existenz des Kinos
(PDF 119 kB)

Margrit Tröhler
Film – Bewegung und die ansteckende Kraft von Analogien. Zu André Bazins Konzeption des Zuschauers (PDF 212 kB)

Vinzenz Hediger
Das Wunder des Realismus.
Transsubstantiation als medientheoretische Kategorie bei André Bazin
(PDF 216 kB)

David Bordwell
Bazins Lektionen: Sechs Pfade zu einer Poetik (PDF 133 kB)

Francesco Casetti
Der Stil als Schauplatz der Verhandlung.
Überlegungen zu filmischem Realismus und Neo-Realismus
(PDF 187 kB)

Guido Kirsten
Die Liebe zum Detail.
Bazin und der ‹Wirklichkeitseffekt› im Film
(PDF 187 kB)

André Bazin
Leben und Tod der Doppelbelichtung (PDF 106 kB)

André Bazin
Farrebique oder das Paradox des Realismus (PDF 92 kB)

Patrick Vonderau
«Kim Novak and …».
Theorie und Geschichte des Product Placement
(PDF 236 kB)

Editorial: Warum Bazin

Warum eigentlich Bazin? Warum sollen wir uns als Filmwissenschaftler heute, fünfzig Jahre nach seinem Tod, mit einem Kritiker und Theoretiker des Films beschäftigen, der die meisten seiner Texte in mehr oder weniger populären Zeitschriften veröffentlicht hat und auf Wissenschaftlichkeit im engeren Sinn gar keinen Wert legen konnte? Warum sollen wir uns immer noch oder erneut mit Theoremen auseinandersetzen, die lange als überholt galten? Aus rein theoriehistorischem Interesse? Oder weil es bei Bazin tatsächlich etwas zu lernen und zu entdecken gibt?

Zunächst ist zu konstatieren, dass Bazin im deutschsprachigen Raum ein weitgehend unbekannter Autor geblieben ist. Nicht dem Namen nach natürlich – den kennt in unserem Feld wahrscheinlich jede und jeder, ebenso wie ein oder zwei seiner einschlägigen Texte. Unbekannt sind seine Schriften geblieben, weil selbst auf Französisch und Englisch weniger als ein Siebtel von ihnen zugänglich ist – auf Deutsch sind es noch deutlich weniger. Und viele der (oft mehr schlecht als recht übersetzten) deutschen Ausgaben sind vergriffen und werden nicht neu aufgelegt. So kennt aus der jüngeren Generation kaum jemand den brillanten «William Wyler»-Aufsatz, weil er nur in dem schmalen Bändchen Filmkritiken als Filmgeschichte (München: Hanser 1981) erschienen ist, das seit langem nicht mehr auf dem Markt erhältlich ist. Andere wichtige Texte wie «De la politique des auteurs» oder «Vie et mort de la surimpression» sind nie übersetzt worden (für den zweiten holen wir dies im vorliegenden Heft nach). Ganze Bücher wie Le cinéma de la cruauté (seine gesammelten Schriften zu Stroheim, Dreyer, Buñuel, Hitchcock, Sturges und Kurosawa) oder Le cinéma français de la Libération à la Nouvelle Vague warten im deutschsprachigen Raum noch auf mutige Verleger. Sie könnten nicht zuletzt das einseitige Bild von Bazin als ‹Realist› korrigieren. Und Bazins Schriften zum Fernsehen müssten hierzulande überhaupt erst entdeckt werden.

Es bietet sich also ein seltsames Bild: einer der bekanntesten Vertreter der Filmtheorie und ein, vor allem im deutschen Sprachraum, fast vergessenes und weitgehend unbekanntes Werk. Zum Teil hängt diese Situation mit der Rezeptionsgeschichte Bazins zusammen. In den Jahren nach seinem Tod und der sukzessiven Veröffentlichung des vierbändigen Qu’est-ce que le cinéma? erreichte sein Einfluss einen ersten Höhepunkt, dessen Zeugnis das Heft Nr. 91 der Cahiers du cinéma darstellt, das vor ziemlich genau 50 Jahren erschienen ist und in dem Freunde, Kollegen und Weggefährten Bazin würdigen. Mit Eric Rohmers Text «La ‹somme› d’André Bazin» findet sich hier auch der erste Versuch einer Synthese von Bazins Theorie, die die Leitlinien seiner späteren Rezeption entlang des Realismus-Axioms vorzeichnet.

Aber nur zehn Jahre später war Bazin in der französischen Filmkultur zum roten Tuch geworden: Die Polemiken um die ideologische Wirkung des Kinos, die dem ihm vermeintlich immanenten ‹Realitätseindruck› zugeschrieben wurden, sowie die Durchsetzung der Filmsemiologie als Leitparadigma der Filmwissenschaft führten dazu, dass seine Schriften jetzt allenfalls noch als zu überwindende Negativfolie gelesen wurden. Seine Konzeption des Kinos galt als ‹idealistisch›, die von ihm propagierte Ästhetik als überholt. Bis in die frühen 80er Jahre hinein war diese ablehnende Haltung in der Filmwissenschaft weit verbreitet und fand ihren Niederschlag auch in wichtigen Lehrbüchern (vgl. etwa L’esthétique du film von Jacques Aumont et al., 1983).

Angesichts der heftigen Kritik, die Bazin im Namen avancierter theoretischer Paradigmen über die Jahrzehnte hinweg einstecken musste, vergisst man leicht, von welch fundamentaler Bedeutung sein Werk für die Filmkultur der zweiten Jahrhunderthälfte, aber auch für die Filmwissenschaft als Disziplin gewesen ist. Es waren seine Schüler wie Truffaut, Rohmer, Rivette und Godard, die als Kritiker das ursprünglich genuin französische Konzept des Auteur universalisierten und zum Klassifikations- und Beurteilungsschema sämtlicher Filmtraditionen erhoben – mit dem Ergebnis, dass plötzlich alle Filmländer ihre ‹Neuen Wellen› erlebten und heute selbst Hollywood-Regisseure sich ihren Status als Autoren, als eigentliche Urheber des Films, vertraglich festschreiben lassen. Ohne die von Bazin und seinem Kreis ausgehende Kanonisierung des Films im Zeichen großer Auteurs – bei aller Skepsis, die Bazin selbst einer übertriebenen Anwendung dieses Konzepts entgegenbrachte – wäre die Filmwissenschaft wohl nie zu akademischer Dignität gelangt, jedenfalls nicht in den philologischen und philosophischen Fakultäten. Zugleich eignet sich Bazin ganz hervorragend für seine eigene Kanonisierung, weil er den Film nach Malraux’ Vorbild in die Geschichte der Kunst einbettet und zugleich Themen wie die Literaturadaption behandelt, die als Türöffner für die Akademisierung der Filmwissenschaft in der Tat eine entscheidende Rolle spielten. Spätestens mit Dudley Andrews The Major Film Theories von 1976, in dem er als Schlüsseltheoretiker des Realismus vorgestellt wird, und mit Andrews Biografie von 1978 avanciert Bazin zum Klassiker der Filmtheorie. Die Heftigkeit der Ablehnung, die ihm in poststrukturalistischen Zeiten stets sicher war, verhält sich durchaus proportional zu seiner instituts- wie diskurspolitischen Unverzichtbarkeit und Unvermeidlichkeit. Ganz abgesehen davon, dass die Verschränkung analytischer, theoretischer und historischer Elemente in seinen Schriften auch für die heutige Filmwissenschaft immer noch vorbildlich ist.

Nach Dudley Andrew ist Bazin dann auch von anderen Theoretikern wiederentdeckt worden. Gilles Deleuze (in dessen beiden Kinobüchern Bazin eine prominente Rolle spielt) und Phil Rosen (mit dem Artikel «History of Image, Image of History: Subject and Ontology in Bazin» von 1987, der 2004 in Change Mummified eingeflossen ist) sind hier besonders hervorzuheben. Die folgende Intensivierung der Auseinandersetzung mit Bazins Theorien hat im Jubiliäumsjahr 2008 einen logischen Kulminationspunkt erreicht. Mehrere große Konferenzen haben das 50. Todes- und das 90. Geburtsjahr Bazins zum Anlass genommen, den Filmkritiker und -theoretiker zu würdigen und sich seinen Schriften (auch den bis dato vernachlässigten) aufmerksam zu widmen. Auf dem internationalen Kongress in Shanghai hat sich Jia Zhang-ke, ohne Frage einer der wichtigsten chinesischen Regisseure seiner Generation, als ‹Bazinianer› bekannt. In Paris und Yale kamen einige der bekanntesten französisch- und englischsprachigen FilmtheoretikerInnen zu Wort, und die Cahiers du cinéma, die immerhin ihre Existenz der Initiative Bazins verdanken, druckten ein Jahr lang in jeder Ausgabe vergessene Artikel von Bazin wieder ab. Auch eine Gesamtausgabe seiner Schriften, die auf einen Umfang von ca. 2600 Texten veranschlagt wird, wurde in Frankreich unlängst angekündigt. Eine Gruppe um Dudley Andrew, der als einer der profundesten Kenner des Bazinschen Werks gelten kann, hat sich bereits der Bibliografierung sämtlicher Zeitschriften-Artikel angenommen und diese unter http:// bazin.commons.yale.edu der Öffentlichkeit zugänglich gemacht

Zu dieser erfreulichen Tendenz will montage AV mit dieser Ausgabe, die André Bazin gewidmet ist, einen Beitrag leisten. Thomas Elsaesser öffnet den Vorhang und stellt sein didaktisches Experiment vor, Bazin zu lesen, ohne die Analyseinstrumente avancierter Theorie und deren Kriterien an die Texte des Kritikers und Theoretikers Bazin anzulegen. Es geht ihm bei diesem Versuch darum, die unter der Kritik der Spätergeborenen teilweise verschütteten theoretischen Potenziale Bazins freizulegen, auch und gerade im Hinblick auf die aktuelle Debatte um die Frage der Präsenz in und von Medien, vor allem Bildmedien. Nicht die ‹Aktualität› Bazins steht dabei für Elsaesser im Zentrum, sondern die anhaltende Sprengkraft seines Denkens.

Dudley Andrew zeigt in seinem Beitrag, dass der oft als Beleg für Bazins Auffassung vom Film als einer wesentlich realistischen Kunst herangezogene Artikel zur Ontologie des fotografischen Bildes nur eine Facette seiner filmtheoretischen Position repräsentiert. Mit Bezug auf Bazins Schriften zur Literaturverfilmung und dessen Plädoyer für ein «unreines Kino» legt Andrew dar, wie Bazin seine Ideen im Schnittpunkt verschiedener filmkritischer Diskussionen im Frankreich der 1950er Jahre entwickelt.

Indem sie den historischen philosophischen Kontext seiner Theoriearbeit beleuchtet, rückt Margrit Tröhler Bazins Realismuskonzept in ein neues Licht. Vor dem Hintergrund der Neuen Psychologie und der Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty und Jean-Paul Sartre gewinnt dabei die Zuschauerkonzeption in Bazins Schriften an Bedeutung. In theoriegeschichtlicher Perspektive zeigt Tröhler, wie der filmische Realismus durch eine Reihe von Übertragungen das Zuschauersubjekt zur (Selbst-)Erkenntnis führen und es so auch in eine neue affektive und intellektuelle Beziehung zur historischen Wirklichkeit setzen soll. Für die dialektische Argumentation von Bazin sind Analogien das Mittel, um von der ontologischen Lebensähnlichkeit des fotografischen Bildes als These über die kinematografische «Sprache » als Antithese zur imaginären Realität der Leinwand zu gelangen. In der Synthese, die letztlich erst durch den Zuschauer erfolgen kann, löst Bazin die Sprachmetapher in der écriture auf, die ein sinnliches und erkennendes Filmerleben ermöglicht.

Eine alternative Lesart von Bazins ontologischen Thesen bietet Vinzenz Hediger unter dem Titel «Das Wunder des Realismus» an, wobei er die spirituellen Dimensionen von Bazins Verständnis des filmischen und fotografischen Realismus auslotet. Wo die Filmtheorie spätestens seit Peter Wollens Umschreibung der «Ontologie des photographischen Bildes» in Peirce’sche Termini in Signs and Meaning in the Cinema von 1969 Bazin als Proto-Semiotiker gelesen und an seine spirituellen Überhänge das scharfe Rasiermesser des aufgeklärten Rationalismus angesetzt hat, schlägt Hediger vor, Bazins Realismuskonzept als medientheoretische Umdeutung der evolutionären Kosmologie von Teilhard de Chardin und insbesondere von dessen Lesart der Transsubstantiationslehre aufzufassen. Dabei geht er auch der Rolle der Psychoanalyse nach und fragt nach deren Verhältnis zu den theologischen und kosmologischen Erbteilen im Denken Bazins.

David Bordwell stellt in seinem Beitrag Bazin einerseits als typischen Vertreter klassischer Filmtheorie dar. Andererseits sieht er in ihm einen wichtigen Vorläufer seines eigenen Ansatzes, einer Poetik des Films, die sich nicht auf das Phänomen Film im Allgemeinen, sondern auf bestimmte Perioden, Genres, Stile und Trends bezieht und dabei nach Konstruktionsprinzipien und deren intendierten Effekten sucht. Bordwell sieht in dieser Hinsicht bei Bazin diverse methodische Lehren und empirische Ergebnisse angelegt, die er für das Forschungsprogramm der Filmpoetik als vorbildlich erachtet.

Francesco Casetti geht von Bazin und seiner Auseinandersetzung mit dem italienischen Neorealismus aus, um einen Stilbegriff zu entwickeln, der filmischen Stil unter dem Gesichtspunkt einer Aushandlung von Konflikten und widersprüchlichen Anforderungen betrachtet und dabei gesellschaftliche ebenso wie thematische und formale Dynamiken zur Sprache bringt. Casettis Begriff der ‹Verhandlung› fasst Stil dabei als ergebnisoffenen Prozess auf und versteht sich nicht zuletzt als Kritik am vergleichsweise statischen Stilbegriff des Neoformalismus.

Bazins Schriften zum Neorealismus bilden auch für Guido Kirsten den Ausgangspunkt, insbesondere die Beobachtungen zu bestimmten Momenten in neorealistischen Filmen, die scheinbar keine dramaturgische Notwendigkeit besitzen. Kirsten schlägt vor, solche Filmmomente unter narratologischen Vorzeichen mit dem Barthes’schen Begriff des ‹Wirklichkeitseffekts› zu fassen, und bestimmt anhand verschiedener Beispiele aus neueren Filmen einige der zentralen Charakteristika dieses Effekts. Die terminologische Differenzierung von ‹Realitätseindruck›, ‹Wirklichkeitseffekt› und ‹Authentieeindruck› soll außerdem ein genaueres Vokabular zur Beschreibung der ästhetischen Besonderheiten des filmischen Realismus ermöglichen.

Der Schwerpunkt wird mit zwei kürzeren Texten von André Bazin selbst abgerundet, die zum ersten Mal auf deutsch übersetzt erscheinen. «Leben und Tod der Doppelbelichtung» erschien 1945 in zwei Teilen in der Wochenzeitschrift Écran Français und wurde von Bazin 1958 in die Auswahl des ersten Bandes von Qu’est-ce que le cinéma? aufgenommen. Der Text ergänzt das filmhistorische Argument einer dialektischen Entwicklung der filmischen Ausdrucksmittel des berühmten Essays «Die Entwicklung der Filmsprache». Er zeigt, wie sich auch Filme mit phantastischer Diegese um ihrer Glaubwürdigkeit willen der Unmittelbarkeit und des perzeptiven Realismus des filmischen Bildes bedienen. Dank neuer technischer und filmkünstlerischer Verfahren wurde es in den 40er Jahren möglich, lebendige Bilder von Toten und Geistern auf die Leinwand zu bringen, die kohärenter wirken als jene Doppelbelichtungen, die in den 20er Jahren das ‹Übernatürliche› denotierten – und die wiederum als Folge dieser Entwicklung veraltet und nicht mehr glaubwürdig erscheinen. Nicht zuletzt kann man an diesem kurzen Text auf exemplarische Weise sehen, wie sich bei Bazin filmtheoretische, -analytische und -historische Argumente ergänzen. Für die Erlaubnis zur Übersetzung und zum Abdruck möchten wir den Éditions du cerf unseren herzlichen Dank aussprechen

Der zweite Text, «Farrebique oder das Paradox des Realismus» (aus der Zeitschrift Ésprit, 1948), ist eher im Kontext von Bazins Studien zum Neorealismus zu lesen. Ein Satz wie «Keine Story, oder fast keine, keine Stars, keine Schauspieler, nichts als eine Realität, die jeder im Stillen seines guten oder schlechten Gewissens persönlich wiedererkennt » erinnert stark an den berüchtigten Schlusspassus seiner Kritik zu Ladri di biciclette. Auch in «Farrebique» betont Bazin die paradox scheinende Möglichkeit realistischer Filme, ihrer immer vorhandenen Künstlichkeit zu entkommen und in direkter Weise auf die wirkliche Welt zu verweisen. Zentral hierfür ist nach Bazin das lustvolle ‹Wiedererkennen› auf Zuschauerseite. Für diesen Text danken wir den Cahiers du cinéma (als Inhaber der Rechte) herzlich für die freundliche Erlaubnis zum Abdruck.

Außerhalb des Schwerpunkts präsentieren wir Patrick Vonderaus Überlegungen zum filmischen ‹Tie-in› oder ‹Product Placement› Ausgehend von Arthur Dantos Ästhetik und eigenen Recherchen in US-Filmarchiven schlägt Vonderau vor, die Einbindung von Markenprodukten in die Handlungslogik als konstitutiv für den ästhetischen Charakter von Mainstream-Hollywood-Filmen zu betrachten. Vonderau beginnt mit einem historischen Überblick über Praktiken des Product Placement und geht dann anhand einzelner Analysen genauer auf deren ästhetische Dimension ein. Im letzten Teil des Essays setzt er sich kritisch mit bisherigen Studien zum Product Placement auseinander und unterzieht die Analogie von Bildschirm und Schaufenster einer kritischen Revision.

Guido Kirsten

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