23/02/2014
Politik

Editorial

Chris Tedjasukmana
Die Öffentlichkeit des Kinos.
Politische Ästhetik in Zeiten des Aufruhrs

Jens Eder
Bilder der Finanzkrise.
Interventionen des Dokumentarfilms

Julia Zutavern
Politik als Modus der Sinn- und Affektproduktion

Guido Kirsten
Gleichheitseffekt, Empathie, Reflexion und Begehren.
Politiken des Realismus

Max Linz
Film-Politik, Studenten-Bewegung, Online-Archiv.
Bericht von der Dziga-Wertow-Akademie

Pascal Bonitzer
Film / Politik. Mit einer Einleitung von Guido Kirsten

Sandra Nuy
Magie des Widerstands.
Elia Suleimans Yadun ’Ilahiyya (Divine Intervention)

Olga Kourelou, Mariana Liz & Belén Vidal
Krise und Kreativität. Zum Neuen Kino in Portugal,
Griechenland und Spanien

Christa Blümlinger
Aufklärer der Bilder. Harun Farocki (1944–2014)

Editorial

Die politischen Umbrüche der letzten Jahre – von der Finanz- und Wirtschaftskrise über die lokalen Demokratiebewegungen, den Arabischen Frühling und seine kriegerischen Folgen bis zur staatlichen und kommerziellen Massenüberwachung – führten zu einer Re-Politisierung der Öffentlichkeit. Systemkritik ist wieder salonfähig, auch im Film. Das zeigt allein die Welle von Spielfilmen über die Finanzkrise, die von Hollywood-Blockbustern wie Oliver Stones Wall Street – Money Never Sleeps (USA 2010) und Martin Scorseses The Wolf of Wall Street (USA 2013) über Erstlingsfilme wie J.C. Chandors Margin Call (USA 2011) zu dem vergleichsweise wenig beachteten Le capital von Costa-Gavras (F 2012) reicht. Noch deutlicher wird die (Re-)Politisierung in den dokumentarischen Filmen über die Ursachen und Auswirkungen der Finanzkrise, des Arabischen Frühlings und der Massenüberwachung – zu denken wäre beispielsweise an Capitalism – A Love Story (Michael Moore, USA 2009), Inside Job (Charles Ferguson, USA 2010), Catastroika (Aris Chatzistefanou & Katerina Kitidi, GR 2012), Al Midan/The Square (Jehane Noujaim, EG 2013), The Return to Homs (Talal Derki, SY/D 2013) oder Citizenfour (Laura Poitras, D/USA 2014). Aktivistische Filme wie Riot from Wrong (Fully Focused, GB 2012), 99 Percent – The Occupy Wall Street Collaborative Film (Aaron Aites, Audrey Ewell, Nina Krstic & Lucian Read, USA 2013) oder Rio em Chamas (Daniel Caetano, BR 2013) verstehen sich wiederum als Chronisten der Bewegungen, die sie dokumentieren, und treten auch als deren Fürsprecher auf.

Den Film als Mittel der politischen Öffentlichkeit zu begreifen ist kein neues Phänomen; neu sind aber die strukturellen und medientechnischen Voraussetzungen ihrer Realisierung. Viele Filmaktivist_innen nutzen die schnellen und kostenlosen Verbreitungsmöglichkeiten von Videoplattformen im Web 2.0. Gruppen wie occupycinema.org, labournet.tv, leftvision.tumblr.com oder das Abounadarra-Filmkollektiv produzieren regelmäßig kurze Dokumentationen und Mobilisierungsvideos. Andere setzen auf Mehrkanal-Videoinstallationen wie Oliver Ressler mit Take the Square (AT 2012) und Stefanos Tsivopoulos mit History Zero (GR 2013). Es gibt Crossmedia-Projekte wie das globale Protestpanorama Everyday Rebellion (AT 2013), die verschiedene Medien nutzen, um möglichst viele Aktivist_innen und deren Kampagnen miteinander zu vernetzen. Virale Handyaufnahmen werden häufig im Verbund mit sozialen Medien genutzt; zugleich erweisen sich in den aktuellen Kriegsschauplätzen die zahllosen vermeintlichen Augenzeugenvideos als derart unzuverlässig und manipulativ, dass Amnesty International 2014 die Videoverifizierungsplattform citizenevidence. org initiierte. Das gegenwärtige ‹politische› Filmschaffen setzt auf Remediatisierung und Relokalisierung, bedient sich unterschiedlicher Formen und Formate. Es bewegt sich in einem erweiterten medienkulturellen Feld, in dem das Verhältnis von Film und Politik neu austariert werden kann.

Die Geschichte dieses Verhältnisses ist lang, und der Glaube an die politische Wirkungsmacht des Films ist so alt wie das Medium selbst. Bis heute wird dem Film sowohl ordnungstragendes als auch -veränderndes Potenzial zugesprochen, wobei wir uns im vorliegenden Heft und in den folgenden einleitenden Bemerkungen auf die zweite Tendenz konzentrieren. Schon in den 1920er-Jahren stritten linke Filmemacher_ innen und Intellektuelle darüber, wie man mit Film revolutionäre Energien freisetzen könne. Sie waren der Ansicht, man müsse die soziale Wirklichkeit – das hieß für sie der Klassengegensatz und dessen Auswirkungen – in einer Weise zeigen, die nicht den Gestaltungsmitteln verfällt, mit denen laut Clara Zetkin «das bürgerliche Massenkino die Werktätigen» betöre und betrüge. In diesem Sinne plädierte Dziga Vertov für das «Kino-Auge» (dokumentarischer ‹Impressionismus›), Sergej Eisenstein für die «Film-Faust» (fiktionaler ‹Expressionismus›). Beide teilten allerdings einen gewissen aktivistischen Idealismus: die Überzeugung, der Film sei ein klassenloses Medium, das, in den richtigen Händen, die ganze Menschheit revolutionieren könne. Eine ähnliche Position – wenn auch deutlich weniger emphatisch – vertrat Walter Benjamin. Unter anderem beeinflusst von den Ideen Vertovs und Eisensteins, betrachtete er das Medium als eine gewaltige «Bruchstelle», in der die ansonsten unsichtbaren politischen Tendenzen der Kunst sichtbar würden. Für ihn war der Film (zumindest der Stummfilm) das epische Medium schlechthin, das aufgrund seiner technischen Voraussetzungen (Montage, Zwischentitel, kollektive Rezeption) immer schon verfremdend und bewusstseinsschärfend wirke, so wie Brecht es vom Theater forderte.

Dieser aktivistische Idealismus geriet nach dem Zweiten Weltkrieg unter Beschuss. Die Erfahrungen des Nationalsozialismus und Stalinismus hatte die Wirkungsannahmen bezüglich des Films als Mittel zur «Klärung und Ausrichtung des Denkens und Fühlens» (John Grierson) auf grausame Weise zugleich bestätigt und enttäuscht. Für Max Horkheimer und Theodor W. Adorno war der Film nicht nur ein mächtiger Zweig der Kulturindustrie, eine Ersatzbefriedigung der ökonomisch Schwachen, sondern auch schon der medialen Form nach ungeeignet für wahrhaft revolutionäre Tendenzen.

Die Auffassung von Massenmedien als ideologisch besetzte, Ideologie verbreitende Manipulationsapparate, wie sie Horkheimer und Adorno vertraten und etwas später unter etwas anderen Vorzeichen auch Louis Althusser, prägte die politische Filmtheorie, -kritik und -praxis der 1960er- und 70er-Jahre. Insbesondere der von Althusser postulierte Teufelskreis – die Annahme, Handlungsmacht bestehe nur unter Berücksichtigung der gegebenen Machtverhältnisse und des damit verbundenen Wertesystems, weshalb auch die (filmische) Kritik an diesen Verhältnissen und diesem System diese letztlich nur bekräftige – führte zu einem neuen Verständnis des politischen Films. Unter der Losung einer ‹Politik der Form› konzentrierte sich die Debatte auf formalästhetische Fragen und auf die Subversion des spontanen Realitätseindrucks und der linearen Narration. Wenn sich der Teufelskreis schon nicht durchbrechen ließ, so die Argumentation, sollte er wenigstens offengelegt werden. Ideengeber der Frage, wie ein solches Offenlegen bewerkstelligt werden könnte, waren unter anderem die Werke und Schriften der 20er-Jahre. (So veröffentlichten die Cahiers du cinéma ab Januar 1969 zwei Jahre lang in fast jeder Ausgabe Texte von und zu Eisenstein, und es gründeten sich Filmkollektive wie die Groupe Dziga Vertov und mehrere Groupes Medvedkine.) Mit dem vermeintlichen Eskapismus des ‹bürgerlichen Illusionskinos› geriet auch der filmische Realismus unter Beschuss (vgl. den Beitrag von Guido Kirsten). Jean- Luc Godards berühmte Losung, nicht nur politische Filme, sondern Filme politisch zu machen, unterstreicht die Unmöglichkeit, die soziale Realität einfach mit der Kamera abzubilden, und begründet das Primat der Form, durch die der Zugang zu einem politischen Gegenstand reflektiert wird. (Ein Beispiel für diese Tradition ist der Text «Film / politique » des jungen Pascal Bonitzer, der 1970 in den Cahiers du cinéma erschien und den wir hier erstmals auf Deutsch präsentieren.)

Parallel dazu erweiterte sich durch die neuen sozialen Bewegungen auch der Politikbegriff selbst, was auch das Kino nicht unberührt ließ. Unter Stichworten wie dem westdeutschen Arbeiterfilm, dem migrantischen, feministischen, lesbischen und schwulen Film betrieben marginalisierte Gruppen nicht nur identitätspolitische Selbstrepräsentation, sondern auch die filmische Erforschung ‹anderer› sinnlicher Erfahrungen. Selbst noch unter dem Sammelbegriff der Nationalkinematografien verbarg sich das Versprechen eines Weltkinos jenseits westlicher Hegemonie. Das Verhältnis dieser neuen Filmbewegungen zum jeweiligen Nationalkino und zum bestehenden Autorenfilm war durch eine doppelte Bewegung der Bezugnahme und Abgrenzung gekennzeichnet. Das zeigte sich im Fall des Dritten Kinos bereits in seinem Namen, der sich nicht nur auf die Dekolonisierung der Dritten Welt, sondern auch negativ auf das erste Kino der Kulturindustrie und das zweite des Autorenfilms bezog. Auch der feministische Film zeichnete sich durch eine Doppelstrategie aus, die sowohl zu einer eigenen Infrastruktur (Frauenfilmfestivals, Frauenfilmzeitschriften) als auch zu kritischen Interventionen gegen das «Männerkino» (Gertrud Koch) führte.

Doch die Radikalisierung, die durch die Politik der Form erzielt werden sollte, und die Pluralisierung des politischen Kinos gingen schon bald mit einer schleichenden Fragmentierung einher, die bis heute anhält. Erstens blieb das Primat der Form für viele politische Filmemacher_ innen selbst dann bestehen, als unter ihnen das Interesse an politischen Themen mehr und mehr nachließ. Der Zerfall der neuen sozialen Bewegungen und der unabhängigen filmkulturellen Strukturen trugen dazu bei, dass sich die intrinsische Beziehung zwischen einem politischen Gegenstand und der politisch reflektierten Art und Weise seiner Verfilmung zugunsten der einen oder anderen Seite hin auflöste. Innerhalb der Filmwissenschaft führte dies mitunter dazu, den analytischen Blick auf Produktionen aus politisch-aktivistischen Kontexten, die allenfalls sekundär ein ästhetisches Interesse zeigen, weitgehend zu verstellen. Zweitens bleiben im Lauf der 80er-Jahre (beispielsweise im Videocamcorder-Aktivismus) kritische Bezugnahmen auf die cinephile Politik der Form, wie sie zuvor noch im feministischen und Dritten Kino auf der Tagesordnung standen, mehr und mehr aus. Auch die parallele Wende der Cultural Studies zu ‹subversiven Lektüren› popkultureller Filmtexte, welche die vermeintlich passive Rezeption und Konsumtion ins Blickfeld rückten, läutete zugleich eine weitere Abkehr von der alten Utopie eines politisch ‹anderen Kinos› mit ‹gegenöffentlichen› Produktions- und Distributionsstrukturen ein. Dieser Umstand erweist sich auch als ein Problem der Theoretisierung des politischen Films, da sich ihr Gegenstand kaum festlegen lässt. Auch vermeintlich ‹unpolitische› Unterhaltungsfilme können einer ‹politischen› Lektüre unterzogen werden – sei es, weil sie sich der ‹Politik› verweigern und so de facto konservativ wirken oder weil sie soziale Stereotype wie zum Beispiel patriarchale Geschlechterverhältnisse perpetuieren. Andererseits wurde gerade im feministischen Filmkontext der enggefasste und vermeintlich emanzipatorische Politikbegriff selbst als maskulinistisch verworfen.

Vor diesem Hintergrund versucht das vorliegende Heft einerseits anhand eines breit gefassten Spektrums an Beiträgen den Pluralismus politischer Filme zu reflektieren und andererseits der Fragmentierung damit zu begegnen, dass es die Frage nach dem ‹Politischen› des politischen Films wiederaufgreift und unter gewandelten historischen Bedingungen zu seiner Neuformulierung einlädt. Wenn von dem ‹Politischen› die Rede ist, dann spielt das auf eine Begriffsdifferenzierung aus verschiedenen Zweigen der politischen Philosophie an, die auf die Unschärfe des Politikbegriffs antwortet, doch nur bedingt zur Lösung des Problems beiträgt. Die Rede ist von der Unterscheidung zwischen der ‹Politik› und dem ‹Politischen›, wobei – vereinfachend und zusammenfassend gesagt – ‹Politik› den engeren Bereich des professionellen politischen Handelns in spezifischen Institutionen bezeichnet (auch ‹Tages-› oder ‹Realpolitik›), während das ‹Politische› alle gesellschaftlichen Teilbereiche übergreift und das sie je strukturierende Prinzip der Vergemeinschaftung bezeichnet. Was aber genau das Spezifische des ‹Politischen› ausmacht, ist in der Theoriebildung durchaus umstritten. Einige betonen das Divisuelle (den Streit, den Kampf), andere das Konsensuelle (das Gemeinschaftliche), einige das Ereignishafte (Eruption, Aufstand, Revolution), andere das Strukturelle und Dauerhafte, und manchen wird aus je einem der Pole gar die differentia specifica des ‹Politischen›.

Für die Konzeption des vorliegenden Themenhefts haben wir zwar von der Unterscheidung zwischen der ‹Politik› und dem ‹Politischen› abgesehen, zielen aber mit dem Begriff der Politik über das enger definierte Feld hinaus, ohne damit gleichwohl einem Begriffsuniversalismus à la ‹alles ist politisch› das Wort reden zu wollen. Unser Arbeitskonzept ist prozessual: Nicht alles ist politisch, aber (fast) alles kann als politisches Problem aufgefasst und zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen werden. Der Prozess, wie ein individuelles oder soziales Problem zum Politikum, das heißt als politischer Gegenstand hörbar und sichtbar wird, stellt eine der zentralen Ausgangslagen der politischen Filmästhetik dar. Denn nur was öffentlich vernehmbar wird (und sei es als Rauschen, Chaos oder Krawall), kann Gegenstand von Politik sein; und eines der medialen Potenziale des Films ist es hierbei, eine solche Veröffentlichung vorzunehmen, die scheinbar private Probleme als politische erkennbar macht. Das Besondere der Filmwahrnehmung ist es, dass das Politisch-Werden mit Empathie und emotionaler Involvierung einhergeht. Der politische Erkenntnisprozess ist im Kino immer ein sinnlich-affektiv erfahrener – was allerdings nicht ausschließt, ihn durch manipulative Überwältigungsstrategien zu übersteigern, durch reflexive Verfremdungseffekte zu brechen oder (wie in campen, queeren und postmodernen Filmen) eine Involvierung durch Distanzierung zu erreichen. Zur Rezeptionshaltung im politisch-filmischen Konstitutionsprozess zählt auch das Sichtbarmachen von hochgradig komplexen Sachverhalten, die im Unsichtbaren ablaufen. So lassen sich die Dokumentarfilme zur Finanzkrise auch als Formen der Komplexitätsbewältigung verstehen, in denen sich Talking Heads, Grafiken, Skyline-Panoramen und soziale Folgeerscheinungen aneinander reihen und so überhaupt erst einen sinnlich fassbaren Komplex bilden.

Die im Heft versammelten Beiträge knüpfen an unterschiedliche Auffassungen von der Politik des Films an. In ihrer Heterogenität zeigt sich einmal mehr, dass es kein umfassendes Konzept des Verhältnisses zwischen Film und Politik geben kann, da die Politik des Films nicht zuletzt auch im Austarieren dieses Verhältnisses liegt.

Chris Tedjasukmana diagnostiziert in seinem Essay eine anhaltende Spaltung in politisch-aktivistische Filme einerseits und das ästhetisch reflexive Projekt einer ‹Politik der Form› andererseits und plädiert für die Aufhebung oder Relativierung dieses Gegensatzes im Sinne eines Sowohl-als-auch. Mit Rekurs auf Hannah Arendt und Alexander Kluge und anhand aktueller aktivistischer Filme und Kunstinstallationen argumentiert er, dass politische Filme durch ihren spezifischen Bezug zu einer Öffentlichkeit oder Gegenöffentlichkeit gekennzeichnet sind. Aus diesem politischen Kontext heraus entsteht zudem eine ‹ästhetische Öffentlichkeit› in der affektiven und kritischen Auseinandersetzung der Zuschauer_innen mit der filmischen Form.

Jens Eder untersucht in seinem Beitrag anhand von vier Dokumentarfilmen beispielhaft die Frage, wie audiovisuelle Medien die Problematik der jüngsten Finanz- und Staatsschuldenkrisen thematisieren. Dabei geht es ihm um gemeinsame Diskurspositionen dieser Filme, aber auch um rhetorische und ästhetische Strategien, die Kino, Fernsehen oder Internet überhaupt für die politische Aufklärungsarbeit geeignet erscheinen lassen.

Julia Zutavern zeigt in ihrer Analyse von Peter Kriegs Das Packeis- Syndrom (BRD 1981/82), einem verkappten Porträt über die Zürcher Jugendbewegung, was es heißt, einen Film politisch, metapolitisch oder parapolitisch zu ‹lesen›. Sie entwickelt ein semiopragmatisches Modell zur Bestimmung und Analyse der Politik des Films, das sich an der politischen Philosophie von Jacques Rancière orientiert, ohne dessen Skepsis gegenüber einer politisierten, für politische Zwecke instrumentalisierten Kunst zu teilen.

Ausgehend von der Beobachtung, dass dem ästhetischen Realismus immer ein besonders enger Bezug zur Politik nachgesagt wurde, geht Guido Kirsten diesem Bezug in historischer und systematischer Hinsicht nach. Er zeigt, in welchem Maße der italienische Neorealismus von politischen Kämpfen geprägt war, die sich sowohl auf konkrete Produktions- und Aufführungsmöglichkeiten als auch auf die Definitionshoheit über das Phänomen bezogen. Gegen den theoretischen Antirealismus der westlichen Marxist_innen der späten 1960er- und 70er-Jahre argumentiert Kirsten mit Bertolt Brecht für einen Pluralismus, der die Existenz verschiedener realistischer Formen ebenso anerkennt wie unterschiedlich geartete Bezüge von Realismus und Politik.

Der Filmemacher und Autor Max Linz vergleicht in seinem Beitrag die Studierendenproteste an der Deutschen Film- und Fernsehakademie (DFFB) 2011, an denen er als Student beteiligt war, mit den dortigen Unruhen von 1968. Während der Proteste veranstaltete Linz eine Sichtungsreihe mit politischen Filmen von ‹68› aus dem DFFBArchiv, um nach Verbindungslinien zwischen Damals und Heute zu suchen. Dabei analysiert er das stark gewandelte Verhältnis zwischen politischer Filmästhetik und filmpolitisch institutionellen Rahmenbedingungen. Statt einer rein historischen Darstellung plädiert Linz auch für ein Wiederanknüpfen an vergangene politische Kämpfe für die Gegenwart.

Als historisches Dokument veröffentlichen wir Pascal Bonitzers «Film / politique» erstmals in deutscher Übersetzung. Im Original 1970 in den Cahiers du cinéma erschienen, ist Bonitzers Text ein Klassiker der Theorie des Verhältnisses von Politik und Kino. Sein Interesse gilt nicht dem cinéma militant (Filmen, die aus einer politischen Bewegung heraus entstanden sind), sondern dem ‹politischen› Unterhaltungsfilm. Er betont die Notwendigkeit einer ‹politischen Lektüre›, die aber nur um den Preis einer Verschiebung gegenüber der Unterhaltungsfunktion und einer Einschreibung der Produktionsmittel in den Film möglich sei. Dem Text ist eine kurze Einleitung in seinen historischen Kontext und in das weitere Werk Bonitzers vorangestellt.

Sandra Nuy beschäftigt sich mit Elia Suleimans Divine Intervention (F/MAR/D/PAL 2002) als Beispiel eines politischen Spielfilms, der den Konflikt zwischen Israel und der palästinensischen Bevölkerung mit Mitteln des magischen Realismus in Szene setzt. Sie zeigt, wie sich die realpolitischen Auseinandersetzungen in einer Dramaturgie niedergeschlagen haben, die kürzere fantastische Vignetten mit längeren Sequenzen kombiniert, und wie der Film über den Einsatz von Symbolen und aus populären Formaten angeeigneten Bildern dem palästinensischen Publikum ein identitätspolitisches Angebot macht.

Der Beitrag von Olga Kourelou, Mariana Liz und Belén Vidal basiert auf drei eigenständigen Panelvorträgen, die im Rahmen der Jahrestagung 2014 des Networks for European Cinema and Media Studies (NECS) zum Thema Creative Energies, Creative Industries gehalten wurden. Obwohl der Beitrag nicht unmittelbar politische Fragen ins Zentrum rückt, bietet er eine interessante Ergänzung, da er sich mit den konkreten Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die Filmindustrien in den am stärksten betroffenen EU-Ländern Portugal, Griechenland und Spanien beschäftigt. Die Autorinnen analysieren präzise, wie auf je spezifische Weise die Krisen zu Einbrüchen und gleichzeitigen kreativen Neuerfindungen sowohl von ökonomischen Produktionsmodellen als auch ästhetischen Formen geführt haben.

Das Heft beschließt Christa Blümlingers Nachruf auf Harun Farocki, einen der bedeutendsten politischen Filmemacher der letzten Jahrzehnte. Blümlinger zeichnet die wichtigsten Stationen seiner Laufbahn nach, die in den 1960ern an der DFFB begann, und beleuchtet die zentralen Themen und Ansätze seines Schaffens. Einen Wiederabdruck seines Texts «Schuß – Gegenschuß. Der wichtigste Ausdruck im Wertgesetz Film» von 1981 veröffentlichten wir in Montage AV 20,1 (2011).

Ein Themenheft kann nie alle Aspekte eines Themenkomplexes abdecken, aber ein Versäumnis schmerzt besonders. Kein Beitrag problematisiert die Machtstrukturen innerhalb der Institutionen unseres Faches, der Film- und Medienwissenschaft. Deren Politisierung – wozu zunächst eine Offenlegung der vielfältigen, oft informellen Abhängigkeiten gehört, ist durchaus ein Anliegen der Herausgeber_innen. Über Politik zu reden, sie aber nur im Bereich des Ästhetischen zu thematisieren und nicht dort, wo wir selbst existenziell von ihr betroffen sind, ist eine gängige Verschiebung. Oft genug versichert man sich des eigenen Status als politische(r) Akteur_in nur im Imaginären und füllt die Legitimitätslücken des eigenen Tuns über den Hinweis auf die politische Relevanz des Gegenstands, von der zu fragen wäre, in welchem Maß sie Artefakt der eigenen Theorieoperationen ist. Dem Desiderat, die Akademie selbst zum Objekt der kritischen Analyse zu
machen – immerhin weist der Text von Max Linz in eine solche Richtung – hoffen wir in einer späteren Ausgabe nachkommen zu können.

Für die Redaktion:
Guido Kirsten, Chris Tedjasukmana & Julia Zutavern

zum Seitenanfang