Editorial (100 kB)
Christof Decker
Criminal Acts.
Überlegungen zur dokumentarischen
Ethik und zum Umgang mit Bildtrophäen (250 kB)
Andrea Reiter
Krieg,
Dokumentarfilm und Verantwortung. Zur ethischen
Begegnung in Filmen aus dem belagerten Sarajevo (180 kB)
Jens Eder
Aus der
Täterperspektive.
Nähe und Erkenntnis im
Dokumentarfilm (240 kB)
Jerry Rothwell
Filmemacher
und ihre Protagonisten (170 kB)
Inga Selck
«Das
nenn’ ich Dreistigkeit.» Konflikte im Verhältnis von
sozialen Akteuren vor und hinter der Kamera: Bettina Brauns
«Hansaring-Trilogie» (190 kB)
Willemien Sanders
Einwilligung,
Preisgabe und Selbstdarstellung
dokumentarischer Personen (140 kB)
Anna Luise Kiss
«Ich
will das Leben! Ich bin Dokumentarist!»
Ethische Fragen dokumentarischer Praxis im DEFA-Spielfilm
Motivsuche (150 kB)
Zur Erinnerung an Elisabeth Büttner
Henning Engelke
Parker
Tylers Labyrinth (200 kB)
Parker Tyler
Hollywood
als Universalkirche (240 kB)
Parker Tyler
Filmkritik
für die Massen (122 kB)
Parker Tyler
Die
Traumstruktur als Grundlage des Experimentalfilms (278 kB)
Adrian Martin
Ein
Dreamteam. Der Briefwechsel zwischen Parker
Tyler und Siegfried Kracauer (150 kB)
Editorial
«Alles in einem Film ist eine Form. Herman ist eine Form.
Auf Wiedersehen, liebe Form!»
Mit diesen Worten verabschiedet sich Johan van der Keuken in Herman Slobbe/Blind Kind 2 (NL 1966) vom «Objekt» seiner dokumentarischen Untersuchung, das sich im Laufe des Films emanzipiert hatte und zum Mitgestalter der Form geworden war. Das Im-Stich- Lassen der Menschen am Ende der Dreharbeiten, das Aufkündigen einer persönlichen Beziehung über Wochen, Monate, zuweilen Jahre hinweg, ist eines der Dilemmata dokumentarischer Arbeit. Van der Keukens Aussage geht aber weiter: Die Beziehung zu den Menschen, denen Dokumentarfilmer mit der Kamera begegnen, ist eine immer ungleiche, ungleichgewichtige, geprägt von einem Gefälle kommunikativer (zuweilen auch sozialer) Macht: der Dokumentarfilmer als Jäger, der Bilder und O-Töne erbeutet, mit denen er im Dunkeln des Schneideraums verschwindet, um ihnen nach Gutdünken Form zu verleihen?
Die Frage nach der Repräsentation Anderer bildet eine der Kernbestimmungen des Dokumentarfilms und umreißt zugleich die ethische Problematik der Gattung. Jede Dokumentarfilmproduktion konstituiert ein soziales Feld, in dem sich Individuen zueinander verhalten und kommunikative Rollen einnehmen. Die Akteure vor der Kamera mögen Objekte einer «Film-Enquête» sein (so hat Jean Rouch seine Arbeit charakterisiert), sie mögen adressiert werden als Opfer politischer Unterdrückung oder ökonomischer Ausbeutung, denen eine Stimme verliehen werden soll, sie mögen zu Komplizen im dokumentarfilmischen Prozess werden oder sich als ein Gegenüber erweisen, an dem der Filmemacher sich reibt oder gegen das er anrennt – und immer sind sie zugleich auch Darsteller ihrer selbst, die das Recht auf Gestaltung des eigenen Bilds für sich in Anspruch nehmen.
Die Rolle des Filmemachers ist ebenso wenig festgeschrieben: Sie oder er mag sich als unsichtbarer Beobachter, nüchterner Chronist oder als Poet verstehen, mag sich als Anwältin der Unterdrückten gerieren, als investigativ arbeitender Detektiv oder auch als Guerilla- Kämpferin, mag sich als verständnisvoller Gesprächspartner oder gar als Therapeut anbieten, oder er mag als Performer vor der eigenen Kamera agieren. (Mit solchen Kategorien hat Erik Barnouw in seiner einflussreichen Geschichte der Gattung die unterschiedlichen Ansätze dokumentarischen Arbeitens und das Selbstverständnis der Filmemacher charakterisiert.)
Wie immer die Ausformung dieser Rollen vor und hinter der Kamera sich gestaltet: Die soziale Situation der Filmarbeit und das Rollengefüge spiegeln sich im Dokumentarfilm wider. Unter Umständen werden die Aushandlungsprozesse zwischen den Beteiligten, die Auseinandersetzungen, kleinen Reibereien und großen Konflikte um die Ausgestaltung und die wechselseitigen Erwartungen ans Gegenüber zum eigentlichen thematischen oder narrativen Kern. Das gilt selbst für das Direct Cinema mit seinem Unsichtbarkeits- und Nichtinterventionsanspruch, denn auch die Anweisung «Verhaltet euch so, als seien wir gar nicht da», formt eine soziale Situation, wenngleich eine, die auf ihrer Verleugnung basiert – ein paradoxes Ansinnen. Die «Fliege an der Wand» bleibt ja auch nicht dort sitzen, sondern surrt im Raum herum, sie stört, sie nervt, man sucht sie zu verscheuchen oder greift zur Fliegenklatsche.
Die in der US-amerikanischen Dokumentarfilmszene verbreitete Redeweise vom informed consent, ein aus der Medizinethik entlehnter Begriff, verweist auf die Pflicht des Filmemachers, die Gefilmten über Inhalt und mögliche Konsequenzen ihrer Mitarbeit ‹aufzuklären›. Der amerikanische Begriff ist ungleich genauer als der im Deutschen gebräuchliche der «Einverständniserklärung». Carolyn Anderson und Thomas W. Benson arbeiten in ihrem Aufsatz «Direct Cinema and the Myth of Informed Consent: The Case of Titicut Follies» (1988) die drei Prämissen heraus, die dem Konzept zugrunde liegen: Erstens müssten das Filmvorhaben und die damit verbundenen Absichten erläutert, dann auf dieser Grundlage die Einwilligung der Mitwirkenden, frei von Zwang und Täuschung, eingeholt werden; zweitens müsse nachdrücklich verdeutlicht werden, welche Konsequenzen eine Beteiligung nach sich ziehen kann (vom Verlust der Privatsphäre bis hin zu juristischer oder anderweitiger Verfolgung); drittens müssten die Mitwirkenden die eigene Einwilligung beurteilen können. Demnach wären geistig Behinderte oder vorübergehend in ihrem Urteilsvermögen Herabgesetzte, Menschen unter Drogeneinfluss, aber natürlich auch Minderjährige sowie alle Beteiligten, mit denen sich die Filmemacher nicht ausreichend sprachlich verständigen können oder die nicht in der Lage sind, eine schriftliche Einverständniserklärung abzugeben, von vornherein als Mitwirkende ausgeschlossen. In der täglichen Arbeit erweist sich dieser (gut gemeinte) Forderungskatalog als schlichtweg nicht praktikabel.
Beobachten oder Eingreifen? – Das Gegensatzpaar, geflügeltes Wort in den programmatischen Diskussionen der 1970er- und 1980er-Jahre, umreißt nicht nur (vermeintlich) konträre Arbeitsauffassungen und Selbstbestimmungen, sondern berührt auch ethische Fragen: Wann muss ein Filmemacher die (schützende) Position hinter der Kamera aufgeben und ins Geschehen eingreifen, um etwa Gewalt zu verhindern? Befreit die Chronistenpflicht ihn oder sie von jeglicher Verantwortung, oder bleibt man Handelnder in einer sozialen Situation, sodass der Tatbestand unterlassener Hilfeleistung erfüllt sein könnte?
An die Überlegungen zur Verantwortung gegenüber den Gefilmten schließen sich die nach der Verantwortung gegenüber den Zuschauern an, so zum Beispiel nach der Zumutbarkeit der Bilder: Ist es ethisch vertretbar, wenn Hans-Dieter Grabe in Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang (BRD 1970) die schweren Verwundungen des vietnamesischen Jungen minutenlang zeigt, mit der Kamera draufhält, wo man den Blick abwenden möchte (oder abwenden muss)? Oder wenn er in Hiroshima, Nagasaki – Atombombenopfer sagen aus (BRD 1985), einem Film zum 40. Jahrestag der Atombombenabwürfe, Material aufnimmt, auf dem in schockierender Drastik zu sehen ist, wie sich amerikanische Mediziner zu Forschungszwecken interessiert über den offenen Rücken eines Strahlen-Opfers beugen und ihre Wattetupfer tief in die eiternde Wunde tauchen? Und was geschieht, wenn solche Bilder ihres sinnstiftenden Rahmens von Aufklärung und Anklage beraubt werden und sich als found footage in anderem Zusammenhang wiederfinden? Solche Fragen zum exploitativen Moment von Kriegsbildern sammeln sich heute unter dem Begriff war porn; sie wurden ähnlich aber schon früher, im Kontext der Ausklammerung von Material aus NS-Filmen und dessen Verwendung im historischen Kompilationsfilm, kontrovers diskutiert.
Strittig ist auch, wem der Dokumentarfilm überhaupt eine Plattform geben darf. Winfried Bonengels Beruf Neonazi (D 1993) wurde seinerzeit heftig angegriffen, weil er alte und neue Nazis zu Wort kommen ließ, ohne deren Äußerungen in einem expliziten Kommentar auszuhebeln. Welche Verpflichtung dem Mitwirkenden gegenüber geht der Filmemacher ein, wenn er ihn durch seinen Alltag begleitet? Strenggenommen muss das Fairnessgebot ja auch gegenüber Menschen gelten, deren ideologische Position der Dokumentarfilmer ablehnt. Wie tariert er die divergierenden Verpflichtungen gegenüber dem Akteur und der Öffentlichkeit aus? Und welche Beziehung zwischen dem Publikum und dem Gefilmten legt er nahe? Welche Empfindlichkeiten der Zuschauer könnte er damit verletzen? Findet eine Reflexion dieser sozialen und ethischen Verstrickungen und Fallstricke statt, wie sie Robert Kramer in Notre Nazi (F/BRD 1984), seinem dokumentarischen Begleitfilm zu Thomas Harlans Wundkanal (BRD/F 1984), unternommen hat?
Immer wieder diskutiert wird auch die Frage, ob der Film gegen den ‹dokumentarischen Kontrakt› verstößt, wenn er mit einer Vermischung von Fiktivem und Dokumentarischem arbeitet, ohne solche Strategien offenzulegen: Betreibt der Filmemacher damit eine Täuschung des Zuschauers?
Das Nachdenken über die ethischen Implikationen der eigenen Arbeit gehört zur alltäglichen dokumentarischen Praxis; die öffentliche Wahrnehmung und Auseinandersetzung richtet sich allerdings vor allem auf Skandale, Krieg, Gewalt und offensichtlich Ausbeuterisches. Und während Debatten zur Ethik des Dokumentarischen in der Filmkritik, auf Festivals und in Fernsehredaktionen oft erbittert geführt werden und documentary ethics in der angloamerikanischen Filmwissenschaft seit Calvin Prylucks programmatischem Aufsatz von 1976 «Ultimately We Are All Outsiders: The Ethics of Documentary Filming», spätestens aber mit der Publikation des Sammelbands Image Ethics: The Moral Rights of Subjects in Photographs, Film, and Television (Gross/Katz/Ruby 1988) etabliert ist, wird die Auseinandersetzung in der hiesigen «scientific community» eher zögerlich geführt oder gar vermieden – wohl, weil sie die Gefahr moralinsaurer Normativität zu bergen scheint. Mit den hier versammelten Beiträgen zum Themenschwerpunkt «dokumentarische Ethik», die einige der angerissenen Fragen aufnehmen, suchen wir die Debatte anzuregen, sie zu entideologisieren und ihr theoretische Impulse zu verleihen.
Gleich drei der Aufsätze widmen sich dokumentarischen Filmen, denen es um eine Auseinandersetzung mit Krieg, Gewalt, Folter geht, und berühren dabei je unterschiedliche Fragen der Perspektivierung und Ausrichtung der Bilder. Christof Decker, mit dessen Beitrag wir den Schwerpunkt eröffnen, zeichnet zunächst die grundsätzlichen Linien der angloamerikanischen Debatte um eine dokumentarische Ethik nach, um sich dann auf die ethischen Implikationen der Verwendung vorgefundenen Bildmaterials zu konzentrieren, das von seinem Entstehungskontext her Unterdrückung, Ausbeutung oder Diskriminierung in sich trägt. Am Beispiel von Standard Operating Procedure (Errol Morris, USA 2008) zeigt er, welche Strategien der Filmemacher entwickelt, um die eingebetteten Machtverhältnisse der «Bildtrophäen» (Susan Sontag) von der Folter und Demütigung irakischer Häftlinge durch amerikanische Militärangehörige in Abu Ghraib sichtbar zu machen und neu zu rahmen. Auf diese Weise kann der Dokumentarfilm nicht nur Fragen nach der Darstellung von Tätern und Opfern nachgehen, sondern auch weiterreichenden politischen Fragen nach der gesellschaftlichen Akzeptanz militärischer Verhörpraxis.
Andrea Reiters Überlegungen zu Dokumentarfilmen aus dem belagerten Sarajevo sind Teil eines größeren Untersuchungszusammenhangs. Anhand zweier exemplarischer Filme, die den ‹Alltag› des Kriegs in der zerstörten Stadt zeigen, arbeitet sie heraus, mit welchen Strategien eine Begegnung mit dem Anderen gefördert wird. Dies lässt sich weniger als emotionale Empathie beschreiben (im Gegenteil werden empathische Prozesse eher gestört oder hintertrieben) denn als Form filmvermittelter Erfahrung, die sich über die Reflexion der Situation der Anderen wie auch der eigenen Haltung vollzieht und die Andrea Reiter mit Michele Aaron als «ethische Begegnung» fasst.
Die These Brian Winstons aufgreifend, es gebe eine Dominanz der Opferperspektive im Dokumentarfilm, setzt sich Jens Eder mit Beispielen auseinander, die von den Tätern her perspektiviert sind. Da es sowohl bei Filmemachern wie in der öffentlichen Diskussion umstritten ist, ob der Dokumentarfilm Mördern, (Neo-)Nazis, Vergewaltigern oder Kriegsverbrechern als Plattform dienen darf, hat Joshua Oppenheimers The Act of Killing (DK/N/GB 2012) international für Furore gesorgt. Eder greift diese Auseinandersetzung auf und stellt sie in einen theoretischen Rahmen, indem er danach fragt, was unter «Täterperspektive» eigentlich zu verstehen ist. Er plädiert für eine Differenzierung im Hinblick auf die grundsätzliche Perspektivenstruktur des (Dokumentar-)Films.
Der kurze Essay des englischen Dokumentarfilmers Jerry Rothwell steht am Anfang von drei Beiträgen, die sich mit der Beziehung von Filmemachern zu ihren ‹Protagonisten› beschäftigen. Die Frage, wie man die Menschen vor der Kamera bezeichnet, als «Gefilmte», als «Mitwirkende », als «filmische Subjekte» oder als «Filmfreunde», als «Protagonisten » oder gar als «Helden», als «Betroffene», als «soziale Akteure» (Nichols) oder auch – verschmitzt-selbstkritisch – als «Elemente der filmischen Form»: Jede dieser Bezeichnungen ist Ausdruck einer spezifischen Beziehung zwischen den Beteiligten vor und hinter der Kamera. Aus seiner praktischen Erfahrung heraus widmet sich Rothwell diesem mitunter heiklen Verhältnis und problematisiert es am Beispiel von Werner Herzogs Grizzly Man (USA 2005), der sich zum Teil aus dem Filmmaterial eines Verstorbenen speist, der ganz Anderes damit vorhatte.
Inga Selck analysiert die Konfliktlinien zwischen der Filmemacherin und den sozialen Akteuren anhand von Bettina Brauns
«Hansaring-Trilogie», einer Langzeitstudie mit männlichen Jugendlichen unterschiedlicher kultureller Herkunft aus dem Kölner Klingelpütz- Viertel. Gerade in Langzeitstudien werden die diffizilen Aushandlungsprozesse greifbar; die Filme sind immer auch Zeugnisse einer sich über Jahre entwickelnden Beziehung zwischen den Beteiligten. Ein Interview mit Braun macht Entscheidungen während der Produktion transparent und zeigt, welche ethische Gratwanderung ein solches Projekt darstellt. Berührt werden Fragen der (Selbst‑)Zensur durch die Beteiligten, nach tabuisierten Bereichen, die dem öffentlichen Zugriff entzogen bleiben mussten, aber auch nach der vorübergehenden ‹Berühmtheit› der jungen Männer und nach ihrem Umgang mit dem Bild, das der Film von ihnen zeichnet, in ihrem sozialen Umfeld.
Willemien Sanders wählt den Zugang über eingehende Interviews mit Menschen, die als Akteure an Dokumentarfilmen mitgewirkt haben. Einen sozialwissenschaftlichen Ansatz aufgreifend, der von Patricia Aufderheide, Kate Nash, Kay Donovan u. a. vorgestellt wurde, fragt sie nach der Mitgestaltung des eigenen Bildes oder nach der Möglichkeit der Intervention gegen Entscheidungen der Filmemacher, aber auch danach, wie es sich angefühlt hat, dem Kamerablick ausgesetzt zu sein, und welche Konsequenzen die Mitwirkung für das eigene Leben hatte.
Der Beitrag von Anna Luise Kiss am Ende des Schwerpunkts berührt einen Grundkonflikt dokumentarischer Arbeit: die Frage des Spielraums von Aufrichtigkeitsgebot und Authentizitätsbehauptung. Kiss wählt dazu die originell verschobene Perspektive der Betrachtung eines der letzten DEFA-Spielfilme, Motivsuche von Dietmar Hochmuth (1990), ein Film-im-Film, in dem ein ambitionierter Dokumentarfilmer daran scheitert, sich der Wirklichkeit vor seiner Kamera zu stellen; stattdessen versucht er – heillos überfordert –, sie so in Szene zu setzen, dass sie sich seinem Konzept fügen möge
Im zweiten Schwerpunkt dieser Ausgabe richten wir den Fokus auf den Filmkritiker und -theoretiker Parker Tyler. Tyler war in den 1940er- und 1950er-Jahren neben James Agee, Robert Warshow oder Siegfried Kracauer einer der einflussreichsten Vertreter einer erst aufkommenden US-amerikanischen Filmkultur. Seine beiden frühen Bücher The Hollywood Hallucination (1944) und Magic and Myth of the Movies (1947) wurden als bahnbrechende Studien zum Kino wahrgenommen. Die Verbindung von präzisen Beobachtungen, subjektiver Reflexion, Massenpsychologie und Mythenanalyse markierte einen Bruch mit der zu dieser Zeit vorherrschenden Filmsoziologie. Tyler griff in diesen Schriften zahlreichen theoretischen und methodischen Feldern der Filmwissenschaft vor, blieb dabei allerdings einem von Metaphern und assoziativen Sprüngen geprägten Schreibstil treu, der sich akademischen Systematisierungsversuchen entzieht. Schon zu Lebzeiten durch das New American Cinema – das er in seinem Buch Underground Film (1969) scharf kritisierte –, aber auch durch die sich formierenden akademischen Disziplinen der Film- und Medienwissenschaft an den Rand gedrängt, geriet Tyler nach seinem Tod 1974 nahezu vollends in Vergessenheit. Selbst seine 1972 erschienene Studie Screening the Sexes, die den Ansatz der Queer Studies um einige Jahre vorwegnimmt, wurde kaum rezipiert. Erst seit kurzem zeichnet sich ein verstärktes Interesse ab, wie David Bordwells Ausführungen zu Tylers filmkritischem Ansatz oder Thomas Elsaessers medienarchäologische Lektüre zeigen (vgl. die Beiträge von Martin und Engelke).
Tylers ungeheuer reiches filmkritisches Werk – ganz zu schweigen von seinen Gedichten, Kunstkritiken, Künstlermonografien und gelegentlichen Texten zum Tanz – stellt des ungeachtet ein bislang weitgehend unberührtes Forschungsfeld dar. Der Schwerpunkt in dieser Ausgabe der Montage AV beansprucht lediglich, einen ersten Ansatzpunkt zu einer filmwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Parker Tyler zu liefern. Ausgewählt wurden drei Texte, die unterschiedliche Aspekte seines Werks repräsentieren und hier erstmals in deutscher Übersetzung erscheinen. Der ursprünglich 1950 publizierte Aufsatz «Hollywood als Universalkirche» zeigt Tyler als einen Kritiker, der hinter die vermeintlich emanzipatorische Oberfläche des «Problemfilms» blickt, um dessen Verknüpfung von rassistischem Assimilationsdruck, wirtschaftlichen Interessen und ideologischen Konfigurationen der US-amerikanischen Demokratie zu enthüllen. Die durch den Zwang des «Als-weiß-Durchgehens» («passing») hervorgerufene Identitätsproblematik von jüdischen und schwarzen Filmschauspielern und Filmfiguren spiegelt zugleich Tylers Auseinandersetzung mit seiner eigenen homosexuellen Identität wider. Erst in den frühen 1970er-Jahren konnte er die Analogie von rassistischem und sexuellem Anpassungsdruck innerhalb streng normierter und, wie er hervorhebt, extrem reduktiver gesellschaftlicher Rollenmodelle explizit ausformulieren.
«Die Traumstruktur als Basis des Experimentalfilms» aus dem Jahr 1960 entstammt Tylers Engagement für die Experimentalfilmbewegung. Er stand früh in engem Kontakt mit der Filmemacherin Maya Deren und unterstützte ihre Anstrengungen für die kulturelle Anerkennung des Experimentalfilms. Im Experimentalfilm sah er eine Form, die, zumindest potenziell, in der Lage sei, die unbewusst hervorbrechenden, in quasi-surrealistischer écriture automatique produzierten Mythen und Fantasien des kommerziellen Films der bewussten Erfahrung zugänglich zu machen. Als künstlerisches Unterfangen sei der Experimentalfilm geeignet – darin ist Tyler noch eng den historischen Avantgarde-Traditionen verpflichtet –, die horrenden Brüche von mechanisierter Lebenswelt und individueller Erfahrung, von Außen- und Innenwelt, zu heilen. Dabei hat Tyler einiges an den Werken der Experimentalfilmer auszusetzen; doch während er Hollywood weitgehend als Ausdruck kollektiver psychischer Vorgänge betrachtet, richtet er hier sein Augenmerk auf die ästhetische Form.
Als sein Stern bereits im Sinken begriffen war, veröffentlichte Tyler 1962 mit «Filmkritik für die Massen» eine Zusammenfassung seiner professionellen Überzeugungen als Filmkritiker. In einem weit ausholenden Bogen greift er eine Filmkritik an, die sich die Prinzipien der Warenproduktion zu eigen macht, um einem leerlaufenden Spiel von Neuerungen das Wort zu reden, das letztlich parallel zu den Zyklen der Mode verlaufe. Dieser Zustand der Filmkritik verweise symptomatisch auf eine Angleichung auch traditioneller Kulturinstitutionen – wie er es in einem für eine spätere Wiederveröffentlichung hinzugefügten Satz nennt – an die Zyklen «unaufhörlicher Massenkommunikation». Dem stellt er seinen eigenen Ansatz gegenüber, der von persönlichen Reflexionen ausgehend den Gegenstand der Kritik kreativ konstituiert.
In Tylers Welt sind kritisches Bewusstsein und die Betrachtung der Objekte in einen Zusammenhang wechselseitiger Genese eingebunden. Diesen Aspekt untersucht der den Parker-Tyler-Schwerpunkt einleitende Aufsatz von Henning Engelke im Hinblick auf Tylers Assoziation mit Surrealismus und dialektischem Materialismus ebenso wie auf seine queeren Lesarten von Filmen. Die vielfältig miteinander verschlungenen Wege von Tylers «Labyrinth» eröffnen eine alternative Perspektive auf die etablierte Sicht der Moderne, die eine strenge Chronologie von klassischer Moderne hin zu einer «post-medium condition» grundsätzlich in Frage stellt und zugleich vielversprechende Anschlussmöglichkeiten an aktuelle Debatten zur Postkinematografie bietet.
Adrian Martins Beitrag am Ende des Dossiers rekonstruiert die spannungsreiche, von gegenseitiger Bewunderung und Konkurrenz geprägte Beziehung zwischen Parker Tyler und Siegfried Kracauer anhand ihres Briefwechsels von 1947 bis zu Kracauers Tod 1966.
Für die Redaktion:
Britta Hartmann mit Inga Selck (Gastherausgeberin
«dokumentarische Ethik») und Henning Engelke (Gastherausgeber «Parker
Tyler»).