Editorial:
Filmfarben
Iryna Marholina:
Ein Lied vom Rot
Farbe im sowjetischen Nachkriegskino
Sabine Lenk:
Farbtraditionen bei Laterna magica und im Stummfilm
Bregt Lameris:
Die Ästhetik der Zwei-Farben-Verfahren
Historiografische Überlegungen zu Leiblichkeit, Farbe
und Film (6 MB)
Barbara Flückiger:
Spielformen der Figur/Grund-Interaktion im Farbfilm
Eine typologische Bestimmung (18 MB)
Janna Heine:
Paranoia und Parodie
Farbspiele in A Dragon Arrives!
In memoriam
Peter Wollen:
Blue
DOSSIER ‹GÜNTHER ANDERS›
Reinhard Ellensohn und Kerstin Putz:
Günther Anders’ Schriften zum Film
Günther Anders:
Tonfilmphilosophie [1929]
Günther Anders:
Der 3D-Film [1954]
Christian Ferencz-Flatz:
Günther Anders als Filmphänomenologe
AUSSERHALB DER SCHWERPUNKTE
Christine N. Brinckmann:
Der Zuschauerschatten im Dispositiv
Eine Skizze
Editorial: Methodologische Vielfalt der Farbforschung
«Das monochrome Weiß ist Fülle. Das monochrome Schwarz dagegen ist die Abwesenheit von Farbe, ihre Nichtung», schreibt Peter Wollen in seinem Essay «Blue» über das gleichnamige kinematografische «monochrome Abenteuer» Derek Jarmans. Der Film Blue (GB 1993), der über die gesamte Filmlänge eine unverändert blaue Leinwand zeigt, ist einerseits eine Reverenz an Yves Klein, andererseits aber auch das Ausloten der Grenzen des Kinoerlebens. Gleichzeitig gilt die Aufforderung an das Publikum, den Freiraum eines 74-minütigen blauen Bildes zu nutzen und seinen eigenen, imaginären Film zu entwerfen. In nuce zeigt sich hier Filmkunst als ästhetische Praxis, in der die Farbe noch in der stärksten Abstraktion als Ausdruckskraft zur Geltung kommt. Doch wie kann man diese elementare Intensität des Kinos methodisch in den Griff bekommen? Sich mit Farbe im Kinoerleben zu beschäftigen, führt in die Gefilde unterschiedlichster Disziplinen, deren Grenzen sich in den Untersuchungen überschneiden. Der Fokus auf die Wahrnehmung streift die Neurobiologie ebenso wie die Psychologie oder die Physik; filmwissenschaftliche Forschungsfragen über ästhetische Farbgestaltung betreffen gleichermaßen die Kunstwissenschaft, Philosophie und Kulturtheorie. Methodisch betrachtet ist die medientheoretische und filmanalytische Auseinandersetzung mit Farbe also alles andere als «monochrom», sondern hochkomplex und vielschichtig. Farbe kann Kohärenz im diegetischen Raum der Erzählung stiften, sie kann aber auch quer dazu stehen – in allen Fällen übernimmt sie eine Kommunikationsfunktion, die wiederum von kulturellen Kodierungen und Konventionalisierungen abhängig ist.
Farbdramaturgien im Sinne von Kontrasten und Kompositionen betreffen alle Bereiche des kinematografischen Artefakts: Kostüme, Licht- und Schattensetzung, Set- und Sound-Design bis hin zu Technikgeschichte und Postproduktion. Gattungs- und Genrekonventionen des Films gehen oft mit speziellen Farbikonografien einher. Insgesamt spielt die Beschäftigung mit Farbe eine zentrale Rolle für die filmische Stilgeschichte. All diese Wechselwirkungen spiegeln in der komplexen Multimodalität des Kinos die Herausforderungen der theoretischen und analytischen Auseinandersetzung mit der Farbe, deren materialästhetische Fragen eng mit der Technikgeschichte verknüpft sind.
Entwicklung als multidimensionale Geschichte
So komplex wie ihre ästhetische, sinnliche und ikonografische Bedeutung ist auch die technische Entwicklung der Farbe im Film. Von den anfänglich applizierten Farben – Hand- und Schablonenkolorierung, Virage und Tonung – zu den additiven Zwei- und Dreifarbenverfahren über Linsenrasterfilme bis hin zu den subtraktiven Verfahren, die sich in späteren Jahrzehnten als Standard der Filmproduktion etablieren sollten, lässt sich die Entwicklung der Farbe im Film als multidimensionale Geschichte unzähliger Experimente, wiederholten Scheiterns, kurzer Erfolge und vieler Kompromisse beschreiben. Die daraus resultierenden Verfahren weisen eine beachtenswerte technologische Bandbreite auf, fußend auf vielseitigen epistemologischen Strängen sowie physiologischen Überlegungen und ideologischen wie ästhetischen Überzeugungen.1
Bis in die 1980er-Jahre hat sich die Filmhistoriografie oft den technischen Aspekten des filmischen Bildes von einem eher deterministischen und teleologischen Standpunkt aus genähert. Tatsächlich wurde der Zeitraum zwischen 1895 und den frühen 1930er-Jahren als eher unbunt beschrieben, während Technicolor, und vor allem das vierte Technicolor- Verfahren, als Höhepunkt der Farbigkeit in die Geschichtsschreibung eingegangen ist. Entgegen dieser Meinung wurden bereits während den ersten Jahrzehnten des Kinos und bis in die späten 1920er-Jahre dutzende Farbfilmtechnologien erprobt: Eine große Anzahl der Filme dieser Zeit, die wir heute meist nurmehr als Schwarzweißfilme kennen, bestachen das zeitgenössische Publikum durch ihre Farbigkeit. Die bunte Palette an Farbverfahren steht parallel zur übergreifenden Kultur der Farbe, welche die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts prägte (vgl. Blaszczyk 2012).
Mit einer zuvor unbekannten Farbenvielfalt in Haushalt, Mode, Kunst und im Stadtbild formte die Konsumkultur auch die Erwartungen, die an das neue Massenmedium herangetragen wurden. In dieser Zeit entwickelten sich nicht nur die aufstrebende Filmindustrie, sondern auch ihre farbige Bildsprache und deren Konventionen.
Mit den 1930er-Jahren und den kulturellen, soziopolitischen und wirtschaftlichen Veränderungen veränderte sich auch die Filmproduktion. Zwar tüftelten weiterhin zahlreiche Erfinder:innen an neuen Verfahren, während sich Technicolor No. IV als funktionale Technologie für größere Produktionen etablierte und die animierten Filme von Len Lye, Oskar Fischinger oder Georges Pal in Gasparcolor, Dufaycolor oder Technicolor IV als avantgardistische Werbefilme zirkulierten. Jedoch läutete das Jahrzehnt der Veränderungen auch eine unfarbige Phase der Filmgeschichte ein. Tatsächlich erweisen sich die oben genannten Beispiele ab den 1930er- und bis in die 1950er-Jahre eher als kurze farbige Akzente. Sogar zahlreiche Technicolor-Filme, notorisch für ihre Farbigkeit, entpuppen sich auf den zweiten Blick als Kreationen in dezenten, neutralen Farben, abgestimmt auf die dominierenden Diskurse der Farbkontrolle und -harmonien (Kalmus 1935; Batchelor 2000). Nur selten nimmt hier die Farbe überhand, vielmehr ist sie durchgeplant und funktional, stets im Dienste der narrativen Ebene und der Charakterzeichnung. Erst mit den 1960er- und 1970er-Jahren kehrte die Farbe als Standard in die Kinos ein, beflügelt vom Zeitgeist einer Epoche, die Farbe in einem Wirbel von Mod-Mode, Hippie-Bewegung, Psychedelika und wirtschaftlichem Aufschwung aufleben ließ. Aus technischer Hinsicht wurde die filmische Farbigkeit ermöglicht durch subtraktive Verfahren wie Eastmancolor, welche sämtliche Produktionsabläufe betrafen und neue Farbästhetiken erlaubten.
Seit den 1990er-Jahren und in Folge der wegweisenden Brighton-Konferenz 1978 zum frühen Kino reflektiert sich diese Komplexität stärker in der Geschichtsschreibung, was auch in der Abwendung von teleologischen Perspektiven begründet ist sowie im Heranziehen bisher nicht berücksichtigter Quellen, ferner der Verwendung von alternativen Forschungsmethoden und in den Möglichkeiten neuer, digitaler Forschungszugänge. Bewegungen wie die New Film History schreiben neue Historiografien, welche die Wellenbewegungen der Farbe im Film mitreflektieren und den Nachweis erbringen, dass technologische Entwicklungen nie in einem Vakuum entstehen, sondern eng an kulturelle und gesellschaftliche Wandel geknüpft sind.
Komplexität der Methodik
Gilt die 1978 von der Fédération Internationale des Archives du Film (FIAF) organisierte Brighton-Konferenz als Startschuss für eine neue Dekade der Forschung, in welcher Filmanalyse und Filmgeschichte nun zusammengedacht werden konnten, brauchte das Forschungsfeld ‹Farbe und Film› etwas länger, bis es sich auf der wissenschaftlichen Agenda behaupten konnte. Sehr früh entdeckten beispielsweise Edward Branigan, Stephen Neale, John Belton oder Gert Koshofer das Forschungsfeld für sich. In den 1990er-Jahren wuchs das Interesse an Farbe im Film kontinuierlich, es entstanden zahlreiche Studien – beispielsweise von Jacques Aumont, Benoît Noël, Tom Gunning, Monica Dall’Asta oder Guglielmo Pescatore. Nach dem Workshop «Disorderly Order» 1995 im Filmmuseum (heute EYE) in Amsterdam, der sich grundlegend der Farbe im Stummfilm widmete, stieg die Zahl der Publikationen, die meist von Filmarchivar:innen und -kurator:innen stammten, rasant an. Der Fokus dieser Veröffentlichungen lag vor allem auf dem frühen Film, eng verbunden mit Diskussionen zur Restaurierungsethik und -praxis. Zusätzlich wurden viele frühe Farbfilme restauriert. Die Festivals in Pordenone oder Bologna zeigen die Werke seitdem, sorgen für eine weitere Distribution des Wissens und tragen zur festen Verankerung der Farbforschung in der Filmwissenschaft bei. Hier ist Farbe mittlerweile zum etablierten Gegenstand geworden und findet sich in grundlegenden Monografien beschrieben (so etwa bei Susanne Marschall, Sarah Street, Federico Pierotti oder Joshua Yumibe, vgl. zudem die NECS-Workgroup «Color» und die Reader zum Gegenstand wie beispielsweise Angela Dalle Vacche / Brian Price 2006). Allen gemein ist, dass sich Farbe als Forschungsgegenstand aus einer Vielzahl von Perspektiven betrachten lässt, woraus eine hohe Komplexität der Methodik resultiert. Meist bleiben die methodischen und theoretischen Voraussetzungen dabei implizit – weshalb sich dieses Themenheft auch explizit als Einblick in die methodologische Vielfalt der Farbforschung versteht.
Im ersten Aufsatz untersucht Iryna Marholina die politische Dimension des Farbfilms: Nach ersten Experimenten mit der Farbe Mitte der 1930er-Jahre avancierte die Einführung des Farbfilms in der Sowjetunion ab 1945 zu einem politischen Schwerpunkt. Dabei bildet die Farbe ein neues, ideologisch noch nicht komplett reguliertes Moment, das Freiräume öffnet, aber auch Reaktionen der Zensur provoziert. Ausgehend vom Gebrauch von Farbtechniken bei der Laterna magica im 19. Jahrhundert zeigt Sabine Lenk, welche Vorreiterrolle Pathé Frères bei der Adaption von Kolorierungsverfahren zukam. Sie fragt darüber hinaus, warum Frauen zu wichtigen Akteurinnen bei der Masseneinführung von Farbkopien wurden. Bregt Lameris widmet sich der Ästhetik der Zwei-Farben-Verfahren und stellt historiografische Überlegungen zu Leiblichkeit, Farbe und Film an. Einen speziellen Aspekt der Farbgestaltung im Film – das Verhältnis zwischen Figur und Grund – untersucht Barbara Flückiger. Anhand vieler Beispiele erarbeitet sie eine Typologie analytischer Kategorien, und zeigt, wie diese erzählerischen, semantischen oder stilistischen Funktionen erfüllen können. Solche Überlegungen greift auch Janna Heine in ihrer Analyse von Mani Haghighis Ejhdeha Vared Mishavad! (A Dragon Arrives!, Iran 2016) auf. Sie untersucht, wie Farbe zum Einsatz kommt, um Konventionen zu sprengen, narrative Brüche zu erzielen oder falsche Fährten zu legen. Schließlich gedenkt Guido Kirsten des bedeutenden Film- und Kulturtheoretikers Peter Wollen, der im Alter von 81 Jahren gestorben ist. In seinem Essay über Derek Jarmans Film Blue geht Wollen der Frage nach, wie das Kino eine wahre Form des Sehens mit Hilfe von Farbe erschaffen kann: «Jarmans Blau ist nicht rein visuell. Es ist geschichtsgesättigt und von Sinn erfüllt.» Wir stellen diesen Text erstmals in deutscher Übersetzung vor.
Außerhalb unseres Schwerpunkts präsentieren wir ein Dossier zu den filmtheoretischen Schriften des Philosophen Günther Anders, welche die längste Zeit fast unbekannt geblieben sind; nur die wenigsten wurden zu seinen Lebzeiten publiziert. Soeben ist nun der von Reinhard Ellensohn und Kerstin Putz vorzüglich editierte Band seiner Schriften zu Kunst und Film erschienen. Wir nehmen dies zum Anlass, zwei von Anders’ Schriften vorzustellen: die Skizze einer Philosophie des Tonfilms von 1929, in der er den immanent widersprüchlichen Charakter des gerade seinen Siegeszug antretenden Tonfilms auslotet; und eine kritische Theorie des 3D-Films als neuartigem Gesamtkunstwerk, das zwar die Widersprüche zwischen Bild und Ton tendenziell überwinde, dafür aber mit anderen perzeptionslogischen Problemen zu kämpfen habe. Gerahmt werden die beiden Artikel durch eine werkbiografische Einordnung der filmtheoretischen Schriften durch die Herausgeber:innen des Bandes sowie einen philosophischen Kommentar von Christian Ferencz-Flatz, der Anders’ Filmtheorie in dessen eigenwilliger Phänomenologie verortet.
Abschließend widmet sich Christine Noll Brinckmann der Frage, welche ästhetischen Besonderheiten sich aus dem Zuschauerschatten im Dispositiv ergeben, und erörtert dabei die Konjunktur des Schattens in der Kinogeschichte über viele Jahrzehnte. So endet das Heft wie es beginnt: mit den elementaren Gestaltungsmitteln des Films – Farbe, Licht und Schatten.
Evelyn Echle für die Redaktion
Noemi Daugaard und Bregt Lameris als Gastherausgeberinnen
1 Zu den verschiedenen Verfahren vgl. die Online-Ressource Timeline of Historical Film Colors: https://filmcolors.org/.
Literatur
- Batchelor, David (2000) Chromophobia. London: Reaktion.
- Blaszczyk, Regina Lee (2012) The Color Revolution. Cambridge, MA: MIT Press.
- Kalmus, Natalie M. (1935) Color Consciousness. In: Journal of the Society of Motion Picture Engineers 25,2, S. 139‒147 [Wiederabdruck in: Dalle Vacche, Angela / Price, Brian (Hg.) 2006) Color. The Film Reader. New York / London: Routledge, S. 24–29].