
Editorial: Mediale Übergänge
Michael Slowik
«Aus tiefstem Herzen»
Wie Warner Bros. den Zuschauern seine Teiltonfilme schmackhaft machte
Johan Nordström
Zwischen Stummfilm und Tonfilm
Die japanische saundo-ban als Übergangsphänomen
Tobias Schönrock
Bricolage mit Grammophon
Der Tonfilm als neue Herausforderung in Gebrauchsliteratur
und Praxis des Amateur-Klubfilms um
Hannah Peuker
Erotische Farbexplosionen
Der japanische Pink Film als ästhetisches
Übergangsphänomen
Angela Jouini
Die in-betweenness digitaler Filme
Transformationen und Kontinuitäten filmischer
Digitalästhetiken am Beispiel von Smartphone-Filmen
Olga Moskatova
Synthetischer Fotorealismus
Soras Ästhetiken des medialen
DOSSIER: BAZIN, MORIN UND DAS FESTIVAL VON CANNES 1955
Kristina Köhler / Guido Kirsten
Vom Filmfestival als Institution, Öffentlichkeit und
Imaginationsraum
Film Festival Studies mit André Bazin und Edgar Morin
André Bazin
Das Festival als Ordensgemeinschaft
[1955]
Edgar Morin
Notizen zu einer Soziologie des Filmfestivals von Cannes
[1955]
IN MEMORIAM
Pierre Sorlin
Ein Nachruf von Frank Kessler
Linda Williams
Ein Nachruf von Andrea B. Braidt
Editorial
Am Ende des Sozialdramas Cyankali (Hans Tintner, D 1930) leidet eine junge Frau unter den Folgen eines (erzwungenermaßen) illegalen Schwangerschaftsabbruchs und liegt todkrank im Bett. Auch wenn ihr leidgeplagtes Stöhnen kurz zuvor – nachsynchronisiert – auf der Tonspur zu hören war, ist jetzt nur mehr ein dramatischer Score zu vernehmen; die mahnenden, an die Mutter der Sterbenden gerichteten Worte eines Kommissars, der den Gesetzesverstoß nachweisen will, sind lediglich auf einem eingeblendeten Zwischentitel zu lesen: «Es soll in Ihrer Wohnung ein Verbrechen wieder das keimende Leben begangen worden sein. Ich muß Ihre Tochter vernehmen!» Doch nur kurze Zeit später bricht die Musik jäh ab, und die nächste Frage des Polizisten, diesmal an die junge Frau im Bett gerichtet, ist synchron zum Bild zu hören: «Also – Frau Fent, Sie hatten Umgang mit einem gewissen Paul Krüger – nicht?» Cyankali, ein typisches Produkt der Übergangszeit vom Stumm- zum Tonfilm, wurde 1930 stumm gedreht, dann nachträglich mit einer Tonspur aus Musik und Geräuscheffekten versehen und um einige wenige im Direkttonverfahren gedrehte Sprech- und Gesangsszenen ergänzt. Als Teiltonfilm (auch: Teilsprechfilm oder part-talkie) vereint er in seiner ästhetischen Gestaltung sowohl typische Elemente der Stumm- als auch der Tonfilmzeit.1
Fast 75 Jahre später: Eine Szene in Michael Manns Collateral (USA 2004), in der der Auftragskiller Vincent einen Trompeter in einer Jazzbar erschießt, ist, verstärkt durch die ästhetische Anmutung des verwendeten 35-mm-Materials, in warme Gold- und Brauntöne getaucht, die an zahlreiche Jazzszenen aus Filmen vorheriger Jahrzehnte denken lassen. Der Übergang in die folgende, draußen auf der nächtlichen Straße gedrehte Sequenz katapultiert die Zuschauer:innen hingegen in eine ganz andersartige Atmosphäre, die durch die verwaschene und weitaus kühlere Bildästhetik der nun zum Einsatz kommenden HD-Kamera hervorgerufen wird. Michael Mann hatte im Vorfeld der Dreharbeiten mit der zuvor im kommerziellen Film nur selten gebrauchten neuen Technologie experimentiert und sich bei den – zwar zahlreichen – dunklen Außenaufnahmen, nicht aber im gesamten Film für sie entschieden (Holben 2004).2
Zwei sehr unterschiedliche Beispiele aus unterschiedlichen Zeiten – dennoch sind sie beide unverkennbar Produkte spezifischer medialer Übergänge in der Filmgeschichte. Mehr noch: Die historischen Übergänge scheinen sich in die ästhetische Struktur der Filme selbst eingeschrieben zu haben und sind für das damalige wie für das heutige Publikum anschaulich geworden, haben Gestalt gewonnen, ähnlich wie dies Michael Wedel für Produktionen konstatiert hat, die aus Krisenmomenten in der Filmgeschichte hervorgegangen sind:
[…] «senses of rupture» become tangible as markers of cinema’s historicity. The splits and fissures in the poetic texture and affective economy of the films themselves become indicative of the breaks and continuities, pressures and tensions within (and often beyond) the culture of which they were part. (Wedel 2019, 13)
Der Übergang von Stummfilm und Tonfilm, ebenso wie der Übergang von analogem 35-mm-Film zur digitalen Bildaufzeichnung, die für weite Teile der Filmproduktion bis heute bestimmend ist – sie haben sich den genannten Beispielen formal eingeprägt, sind an ihnen zu lesbaren Spuren medialen Wandels geworden.
Mediale und filmhistorische Wandlungsprozesse, ob als Brüche oder Übergänge konzipiert, können also in filmischen Werken, Artefakten und Dispositiven ästhetischen Ausdruck erlangen. In der Begrifflichkeit des Historikers Reinhart Koselleck gefasst, ließe sich von Überlagerungen verschiedener «Zeitschichten», von «Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen» (Koselleck 1979, 2000) sprechen, die in den Filmen als jeweilige ästhetische Konstellationen konkret erfahrbar werden. David Thorburn und Henry Jenkins sprechen in ihrem Sammelband Rethinking Media Change (2003) in diesem Zusammenhang von einer (oder mehrerer) «Aesthetics of Transition», von «Ästhetiken des Übergangs» in der Mediengeschichte, fragen nach deren Besonderheiten und Auffälligkeiten und gehen damit über einen rein technologisch verstandenen Medienbegriff hinaus. Medien lösen einander nicht ab, so argumentieren sie, sie gehen – eben auch in ihrer Ästhetik – ineinander über, zitieren einander, überlagern sich und weisen gleichzeitig zurück, voraus und in umliegende Bereiche. Der Themenschwerpunkt dieser Ausgabe von Montage AV möchte diesen Faden aufnehmen und danach fragen, wo und wie sich solche medialen Übergangsästhetiken in der Filmgeschichte wiederfinden und wie sie sich anhand konkreter Fallbeispiele beschreiben lassen.
In der Filmhistoriografie hat der Begriff des Übergangs schon verschiedentlich Anwendung gefunden, teils aus zeitlicher Distanz, teils aus dem jeweiligen Wandel selbst heraus. Béla Balázs spricht bereits 1930 von einer «Krise des Übergangs» in Bezug auf den Wandel vom Stumm- zum Tonfilm und beklagt damit das Vorhandensein von Filmen, die das von ihm hochgehaltene Ideal einer spezifischen Tonfilm-Ästhetik noch nicht erreicht hätten (2001, 141). Wesentlich später hat die amerikanische Filmhistoriografie im Anschluss an Tom Gunnings Konzept des cinema of attractions den Begriff der transitional era (auf Deutsch meist als «Kino des Übergangs» übersetzt) für den filmhistorischen Abschnitt zwischen etwa 1908 und 1917, also zwischen dem «Kino der Attraktionen» und der Kernphase des sogenannten «klassischen Stummfilmkinos», etabliert. Der Begriff bezieht sich in diesem Fall nicht auf einen klar umrissenen technologischen Wandel (wie der Durchsetzung des Tonfilms oder den digitalen Wandel), sondern eher auf ein Konglomerat aus diversen Faktoren, die nahezu alle Ebenen von Produktion, Rezeption und Ästhetik in diesem Zeitabschnitt betreffen (vgl. Pearson 1998; Keil 2004). Den gegenwärtig immer noch andauernden digitalen Wandel schließlich hat Giovanna Fossati (2018) aus einer filmarchivarischen Perspektive heraus dezidiert als eine Phase des Übergangs (transition) verstanden und als solche eingehend beschrieben und theoretisiert.3
Wenn der Begriff in der Filmhistoriografie somit bereits über eine gewisse Tradition verfügt, so lässt sich doch weitergehend fragen, an welchen Stellen sich Übergangsphasen insbesondere ausmachen lassen, was sie miteinander verbindet und wann und unter welchen Bedingungen sie sich spezifischer als mediale Übergänge fassen lassen. In diesen Fragestellungen liegt auch das Potenzial zu einer Nuancierung filmhistorischer Epocheneinteilung. Denn die Metapher des Übergangs separiert einerseits zwei voneinander unterscheidbare Phasen, postuliert aber zugleich etwas Drittes, Dazwischenliegendes, das selbst sowohl eine räumliche als auch eine zeitliche Dimension besitzt: den (tastenden) ‹Gang› über etwas hinweg, von einem Feld in ein anderes, das Betreten von Neuland. In dieser Hinsicht scheinen auch filmhistorische ‹Phasen› oder ‹Abschnitte› oft weniger streng separiert aufeinanderzufolgen, als allmählich, teils diskontinuierlich, ineinander überzugehen. Damit wird auch eine Schwerpunktverlagerung möglich: Untersucht werden können so z.B. nicht mehr nur der (späte) Stummfilm oder der (frühe) Tonfilm, sondern eher Hybride, Zwischenformen oder Schwellenzustände, die sich im Übergang vom einen ins andere auftun.
Thorburn und Jenkins weisen bereits auf grundlegende Merkmale von Übergangsästhetiken hin. So sind sie etwa immer in unterschiedlichen Zeiten zugleich zu Hause. Typisch für sie sind Momente der Kontinuität von Vergangenem oder des Festhaltens an alten Praktiken, selbst wo diese bereits als nicht mehr ganz zeitgemäß gelten oder erlebt werden. Thorburn und Jenkins sprechen hier vom «continuity principle» und von den «holdovers of old practices» (2003, 7). Die Vorzeichen, unter denen diese auftreten und zu beobachten sind, können sich dabei gravierend voneinander unterscheiden – das Spektrum reicht von wirtschaftlichen Erwägungen über den nostalgischen Rückgriff bis hin zu der statistischen Auswertung akkumulierten Kulturguts in neueren KI-generierten Videoclips. Zugleich verweisen filmische Übergangsprodukte in ihrer Ästhetik immer auch auf Kommendes; Elemente des Noch-Unfertigen sind ihnen oft selbstbewusst eingeschrieben. Sie können sich damit selbst, in ihrer ästhetischen Gestaltung, als Produkte einer Imagination der medialen Zukunft ausweisen.4 Nicht zuletzt aber lassen sich Übergangsästhetiken auch in ihren spezifischen Gegenwarten verorten, indem sie von den Unsicherheiten und Unwägbarkeiten ihrer Zeit zeugen; sie entstehen zu einem spezifischen Zeitpunkt und werden von einem zeitgenössischen Publikum in historisch spezifischen Rezeptionskontexten erfahren. Ästhetiken des Übergangs zeichnen sich mithin durch eine dreifache Zeitlichkeit aus: dem Alten verhaftet und dem Neuen zugewandt sind sie zugleich in ihrer konkreten materiellen Ausformung fest in einem jeweiligen Jetzt verankert
Ästhetiken medialer Übergänge sind zudem oft durch Wechselwirkungen mit benachbarten Medien geprägt. Prozesse der Remediation (Bolter/Grusin 2000) und Medienkonvergenz (Jenkins 2006) bestimmen in der Tat auch die Filmgeschichte, gerade an ihren Übergangsmomenten, etwa wenn der frühe Tonfilm Symbiosen mit der Musikindustrie eingeht, auf Schallplatten vertriebene Musikstücke in sich aufnimmt, für diese wirbt und seine Spielhandlung der Logik der Zurschaustellung musikalischer Nummern unterordnet. Herausgefordert werden damit stets – wie sich exemplarisch an den filmtheoretischen Schriften zur Zeit des frühen Tonfilms zeigt – Vorstellungen von einer Medienspezifik des Films:
To comprehend the aesthetics of transition, we must resist notions of media purity, recognizing that each medium is touched by and in turn touches its neighbors and rivals (Thorburn/Jenkins 2003, 11)
Charakteristisch für Ästhetiken des Übergangs sind zudem Praktiken, Technologien und Dispositive des Hybriden, in denen sich Versatzstücke unterschiedlicher Zeitabschnitte vereinen und die oft einer «Logik des Sowohl-als-auch» (Schneider 1997, 20) folgen, vor allem wenn – wie im Falle der genannten Teilton- und Mixed-Media-Filme – die einzelnen Komponenten als solche noch erkennbar sind (ebd., 47). Zugleich können hybride Formen aber auch von Paradoxien und Widersprüchlichkeiten gekennzeichnet sein, in denen sich die einzelnen Bestandteile nicht mehr ohne Weiteres voneinander trennen lassen.5
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Die Beiträge in unserem Themenschwerpunkt möchten einige der medialen Übergänge in der Filmgeschichte in den Blick nehmen, nach ihren jeweiligen ästhetischen Strategien fragen und damit zugleich «Übergang» als geeignetes Konzept für die Untersuchung ästhetischer Implikationen medialer Transformationsprozesse in der Filmgeschichte befragen. Wie die historische Bandbreite der versammelten Beiträge verdeutlicht, lassen sich ästhetische Übergangsphänomene in unterschiedlichen Phasen der Filmgeschichte beobachten, und zwar bis zu den heutigen, sehr aktuellen Entwicklungen im Zeichen der Digitalisierung. Damit soll der Themenschwerpunkt nicht nur anregen, weitergehend über die Ästhetiken medialer Transitionen und über die ästhetischen Implikationen von Medienwandel insgesamt nachzudenken, sondern auch dazu, das Spektrum filmhistorischer Gegenstandsbereiche zu erweitern. Die (ästhetisch orientierte) Filmgeschichtsschreibung hat sich oft auf Phasen relativer Stabilität konzentriert und insbesondere ‹klassische› Perioden ausgemacht, wie etwa in der so monumentalen wie einflussreichen Studie zum Classical Hollywood Cinema von Bordwell, Thompson und Staiger (1985). Ohne die Wichtigkeit dieser Perspektiven in Abrede zu stellen, sollen die in diesem Themenheft versammelten Fallstudien dazu ermuntern, vermehrt auch Transitionsphasen der Filmgeschichte in den Blick zu nehmen (oder mediale Übergänge überhaupt erst als konstitutiv für filmhistorische Entwicklungen zu begreifen). Dieses Vorgehen birgt einiges Potenzial: Wer gezielt nach Übergängen sucht, stößt schnell auf vermeintliche Randgebiete, die unter einem anderen Blickwinkel eher vernachlässigt werden, wie beispielsweise die in diesem Heft behandelten Bereiche des Amateurfilms oder des frühen Tonfilms in Japan (beides in den 1930er-Jahren), die jeweils ganz andere Dynamiken und Zeitlichkeiten des Übergangs aufweisen als Spielfilmproduktionen in der westlichen, kommerziellen Filmindustrie.
Die ersten drei Beiträge im Themenschwerpunkt widmen sich der frühen Tonfilmzeit. Michael Slowik zeigt, wie die in den USA von Warner Brothers zeitweilig mit großer Zielstrebigkeit produzierten Teiltonfilme – u. a. The Jazz Singer (Alan Crosland, USA 1927) und Weary River (Frank Lloyd, USA 1929) – gerade in ihrer hybriden Struktur dazu geeignet waren, im Kinopublikum ‹Lust› auf Tonfilme mit hörbaren Dialogen zu erzeugen. Die medialen Übergänge von stummen zu Sprechpassagen wurden bewusst in die Narration dieser melodramatischen Filme einbezogen, um den Tonfilm als besonders adäquates Medium für die Vermittlung von Emotionen auszuweisen.
Johan Nordström präsentiert das in der westlichen Filmgeschichtsschreibung nahezu unbekannte Phänomen der saundo-ban – stumm gedrehte und mit Musik, Geräuscheffekten und teils mit Sprecherstimmen nachsynchronisierte Filme –, das sich in der langen Übergangsphase zum Tonfilm in Japan bis mindestens Ende der 1930er-Jahre halten konnte und insbesondere in den proletarischen und ländlichen Bevölkerungsschichten populär blieb. In dem kalkulierten Einbezug von populärer Musikkultur und Live-Performances der Benshi in die saundo-ban wird deutlich, in welchem Maße der frühe japanische Tonfilm Symbiosen nicht nur mit den Konventionen des Stummfilms, sondern auch mit anderen Medien einging.
Ein Zeitschriftenartikel des Wiener Amateurfilmers Friedrich Kuplent vom März 1930 bildet für Tobias Schönrock den Anlass, in seinem Beitrag dem Dialog zwischen den Aktivitäten und ästhetischen Diskursen der Amateurfilm-Community und der kommerziellen Filmindustrie jener Periode nachzugehen. Das geschieht vor dem Hintergrund des forcierten Übergangs zum Tonfilm, wie er sich zeitgleich im kommerziellen Kino vollzog, im Amateurfilm aber stark verzögert in Erscheinung tritt. Das close reading von Kuplents Artikel macht deutlich, wie dieser Text als Träger und Vermittler eines historischen, lokal situierten und materiellen Praxiswissens fungiert. Und es zeigt sich, dass die Verschriftlichung und Distribution solchen Wissens Regeln gehorcht, die damals in der Amateurfilm-Szene virulent waren.
Die sich anschließenden drei weiteren Beiträge im Schwerpunkt sind späteren medialen Übergängen gewidmet. So geht Hannah Peuker Fragen der Übergänglichkeit an den sogenannten Pink Films nach. Dieses von Gewalt und expliziter Sexualität geprägte Genre des japanischen Kinos ist in den 1960er-Jahren unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass sich die hybride Verwendung von Schwarz/Weiß- und Farbfilmmaterial zu einer regelrechten Konvention entwickelte. Wie Peuker zeigt, lässt sich diese Übergangsästhetik nicht nur vor dem ökonomischen Hintergrund günstiger Filmproduktion verstehen. Sie muss vielmehr auch in Bezug zu einem kulturellen Umbruch gesetzt werden, innerhalb dessen das Innehalten im Moment des Übergangs selbst zu einem politischen Ausdruck wird.
Angela Jouini schlägt vor, filmische Digitalästhetiken mit dem Begriff der ‹in-betweenness› zu bedenken, als ein Dazwischen, dass sich einerseits – historisch – auf die Digitalisierung von Film und Kino beziehen lässt, andererseits – medial und ästhetisch – auf die damit verbundenen Formen der Vermischung und Hybridisierung. Es gelte, Übergänge auf ihre simultanen statt auf ihre linearen Muster, auf die Überlagerungen, Gleichzeitig- und Mehrdeutigkeiten zu befragen. Entsprechend zeichnet Jouinis Analyse des Smartphone-Films Tangerine (Sean Baker, USA 2015) ein Netz von Bezügen und Abweichungen nach, das den Film Look Hollywoods ebenso aufruft wie Realismus-Traditionen des Autorenfilms, Elemente des Queer Cinema und Social-Media-Ästhetiken
Olga Moskatova befasst sich in ihrem Beitrag mit TechDemos für Bewegtbilder der generativen KI-Anwendung Sora. Im Unterschied zum «mimetischen Fotorealismus», mit dem digitale Medien um das Jahr 2000 versuchten, analoge Medien zu imitieren, geht es, so ihre These, beim «synthetischen Fotorealismus» der Sora-TechDemos darum, gerade durch ihre von Bewegungsinkonsistenzen geprägte Ästhetik den Übergang als Versprechen einer zukünftigen Überwindung heutiger technischer Unzulänglichkeiten zu thematisieren.
1955 besuchten André Bazin und Edgar Morin die Internationalen Filmfestspiele von Cannes. Ob sich die beiden an der Croisette oder in den Kinosälen begegneten, lässt sich nicht belegen. Interessant ist jedoch, dass beide – Bazin als Filmkritiker, Morin als Soziologe – im Nachgang zum Festival Texte veröffentlichen, die dazu anregen, das Festival selbst als Institution und spezifische Öffentlichkeit von Filmkultur in den Blick nehmen. Während Bazins Aufsatz «Du Festival considéré comme un ordre» heute als ein Gründungstext der Film Festival Studies gilt, gerieten Morins «Notes pour une sociologie du festival de Cannes» weitgehend in Vergessenheit.
In unserem Dossier «Bazin, Morin und das Festival von Cannes 1955» veröffentlichen wir beide Texte erstmals in deutscher Übersetzung. Ihre Zusammenschau eröffnet Einblicke in die Geschichte der Filmfestspiele von Cannes und ermöglicht, dem Aufkommen einer Auseinandersetzung mit dem Filmfestival aus dem diskursiven und intellektuellen Umfeld im Frankreich der 1950er-Jahre nachzugehen. Ganz in diesem Sinne zeichnen Kristina Köhler und Guido Kirsten in ihrem Einführungstext nach, welche spezifischen Interessen und (theorie-)historischen Denkströmungen Bazins und Morins Texte prägen, wo sich ihre Leitkonzepte berühren oder unterscheiden und inwiefern sie sich als mögliche Einsatzpunkte einer Geschichte der Filmfestivalforschung verstehen lassen.
Am 19. Januar 2025 starb in Paris der französische Filmwissenschaftler und Historiker Pierre Sorlin im Alter von 91 Jahren. Frank Kessler würdigt ihn in seinem Nachruf als wichtige Stimme, die den Diskurs unseres Faches in Frankreich seit den 1970er-Jahren mitprägte. Wenige Wochen später, am 12. März, starb Linda Williams. An der UC Berkeley tätig, war sie eine der bedeutendsten feministischen Film- und Medienwissenschaftlerinnen. Andrea B. Braidt erinnert an Linda Williams’ vielschichtiges und weithin einflussreiches Wirken
Daniel Wiegand als Gastherausgeber undJörg Schweinitz für die Redaktion
1 Zu diesem Film und seinen Status als hybrider Teiltonfilm vgl. Wiegand (2022). Zur Übergangsästhetik des frühen Tonfilms allgemein vgl. Wiegand (2023).
2 Vgl. Rothöhler (2013, 31–37) zur «digitalen Ästhetik» in den Nachtaufnahmen von Collateral sowie Hartmann (2012, 135–140).
3 Für eine besonders aktuelle Erkundung des Transitionsbegriffs im filmwissenschaftlichen Zusammenhang, allerdings nicht ausschließlich historisch verstanden, vgl. Astafeva/Greiner/Pauleit (2025)
4 Vgl. hierzu Ernst/Schröter (2020), die Imaginationen zukünftiger Medien als wesentlichen Teil des Medienwandels begreifen
5 Vgl. zu diesem Verständnis von Hybridität Spielmann (2019). Zu Ambiguitäten bezüglich des Status einzelner Komponenten im Teiltonfilm anhand des Musikfilms Delikatessen (Géza von Bolváry, D 1930) vgl. Wiegand (2025).
Literatur
- Astafeva, Tatiana / Greiner, Rasmus / Pauleit, Winfried (Hg.) (2025) Transitionen. Filmische Dimensionen des Übergangs. Berlin: Bertz + Fischer
- Balázs, Béla (2001) Der Geist des Films [1930]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
- Bolter, Jay David / Grusin, Richard (2000) Remediation: Understanding New Media. Cambridge/London: MIT Press
- Bordwell, David / Thompson, Kristin / Staiger, Janet (1985) The Classical Hollywood Cinema. Film Style & Mode of Production to 1960. London: Routledge
- Ernst, Christoph / Schröter, Jens (2020) Zukünftige Medien. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS
- Fossati, Giovanna (2018) From Grain to Pixel: The Archival Life of Film in Transition. 3. erw. Auflage. Amsterdam: Amsterdam University Press.
- Hartmann, Britta (2012) «Atmosphärische Dichte» als Kinoerfahrung. In: Filmische Atmosphären. Hg. v. Philipp Brunner, Jörg Schweinitz & Margrit Tröhler. Marburg: Schüren, S. 125–142.
- Holben, Jay / Cameron, Paul / Beebe, Dion (2004) ACS push hi-def video to its limits for Collateral. In: American Cinematographer 85,8 (= theasc.com: https://is.gd/81Uiev [letzter Zugriff: 28.05.2025])
- Jenkins, Henry (2006) Convergence Culture: Where Old and New Media Collide. New York / London: New York University Press
- Keil, Charlie (Hg.) (2004) American Cinema’s Transitional Era: Audiences, Institutions, Practices. Berkeley: University of California Press
- Koselleck, Reinhart (1979) Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (2000): Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
- Pearson, Roberta (1998) Kino des Übergangs [1996]. In: Geschichte des internationalen Films. Hg. v. Geoffrey Nowell-Smith. Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 25–42
- Rothöhler, Simon (2013) High Definition. Digital Filmästhetik. Berlin: August
- Schneider, Irmela (1997) Von der Vielsprachigkeit zur ‹Kunst der Hybridation›: Diskurse des Hybriden. In: Hybridkultur: Medien, Netze, Künste. Hg. v. Irmela Schneider & Christian W. Thomsen. Köln: Wienand.
- Spielmann, Yvonne (2010) Hybridkultur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
- Thorburn, David / Jenkins, Henry (2003) Introduction: Toward an Aesthetics of Transition. In: Rethinking Media Change: The Aesthetics of Transition. Hg. v. dens. Cambridge/London: MIT Press.
- Wiegand, Daniel (2022) ‹Islands of Sound in the Silent Flow of Film›: German part-talkies around 1930 as a hybrid medium. In: Historical Journal of Film, Radio, and Television 42,3, S. 427–450 — (2023) The Aesthetics of Early Sound Film: An Introduction. In: Ders. (Hg.) Aesthetics of Early Sound Film: Media Change Around 1930. Amsterdam: Amsterdam University Press. — (2025) Übergänge zwischen Stumm- und Tonfilm im deutschen Teiltonfilm Delikatessen (1930). In: Astafeva/Greiner/Pauleit 2025, S. 11–23
- Wedel, Michael (2019) Pictorial Affects, Senses of Rupture: On the Poetics and Culture of Popular German Cinema, 1910–1930. Berlin: De Gruyter.