Editorial
Mikroanalyse
Henning Engelke
Bewusstsein, Wahrnehmung und Filmpraxis
Der «Doris-Film» und die Geschichte der Mikroanalyse
Maria Eriksson
Zur Bedeutung des Skalierens beim Upscaling digitaler
Bilder
Stefan Höltgen
Bitstory
Archäologische Zustandsbetrachtungen eines
(verschwundenen) Pixels
Julia Herbach
Medium der Lücke
Eine Medienarchäologie des Teletexts
Patrick Vonderau
Außergewöhnlich normal
Zu einem Leitbegriff der Mikrogeschichte
Ausserhalb des Schwerpunkts
Sarah Bashir
Für den Computer existiert der Wald nicht
Narrative Potenziale von Videospiel-Genres
Lucas Curstädt
Zum Anfang und Ende von Aftersun
Über anthropomediale Verstrickungen
Elena Meilicke
Schwellenzauber
Zum Set als Operator filmischer Autosoziobiografie
in Joanna Hoggs The Souvenir
Volker Pantenburg
THE END
Ein filmwissenschaftlicher Topos
Fundsache
Christine N. Brinckmann
C. W. Cerams Buch Eine Archäologie des Kinos (1965)
In Memoriam
David Bordwell
Ein Nachruf von Frank Kessler
Editorial
In seiner Monografie Last Second in Dallas (2021) spürt der Kierkegaard- Experte, Journalist und Privatdetektiv Josiah Thompson mithilfe zahlloser Ton- und Bilddokumente den letzten Augenblicken John F. Kennedys am Tatort Dealey Plaza, Dallas, Texas nach. Teils Autobiografie, teils Abschlussbericht einer zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits über 50 Jahre andauernden Recherche gibt Thompsons Buch auf knapp 500 Seiten Auskunft vor allem über eines: das Problem historischer Rekonstruktionen, nie sicher sagen zu können, welches Puzzleteil zum Spiel gehört und welches nicht. Dass durch zufällige Fehlplatzierung im forensischen «evidence package» eine allseits gewusste und erinnerte Tatsache entsteht und dann auch leicht wieder vergeht, wenn etwa auditive Signale des Polizeifunks mit Amateurfilmen oder Interviews abgeglichen werden: Es ist die Mikrogeschichte, die solches bewirkt, die das historische Ereignis zu destabilisieren, ja gänzlich neu zu denken vermag. Tonaufnahmen, Fotografie, Film oder digitale Medien spielen aber nicht nur in der Forensik eine zentrale Rolle dabei, dass und wie Tathergänge rekonstruiert werden können, sondern sind außerdem schlicht das Material der Geschichte selbst.
So zeigt Thompson in seinem ersten Buch zum Thema, Six Seconds in Dallas (1967), dass der von ihm so benannte «umbrella man» am sonnigen Straßenrand vor Kennedys Limousine tatsächlich nur einen Regenschirm als Anspielung auf Neville Chamberlains Appeasement-Politik hielt und nicht etwa ein verborgenes Gewehr (siehe Titelillustration). Wie Thompson später im Dokumentarfilm The Umbrella Man (USA 2011, Errol Morris) bemerkte,
If you put any event under a microscope, you will find a whole dimension of completely weird, incredible things going on. It is as if there is the macro level of historical research, where things sort of obey natural laws and the usual things happen and the unusual things don’t happen, and then there is this other level, where everything is really weird.»
Das Themenheft «Mikroanalyse» widmet sich eben der Frage, was solche Skalenveränderungen bedeuten, wie sie zustande kommen und was dabei zu entdecken ist.1 Mit dem Begriff «Mikroanalyse» öffnen wir den Blick dabei über die historiografische Praxis und das engere Feld der Mikrogeschichte hinaus, zumal soziologische oder computertechnologisch orientierte Forschungen wichtige film- und medienwissenschaftliche Impulse liefern.
Das Zusammenspiel von Forschungsfilm, Kommunikationstheorie und Dokumentarfilm im US-amerikanischen Kontext der 1950er-Jahre zeichnet Henning Engelke mit seiner Analyse des sogenannten «Doris-Film» nach. Der Film, bekannt unter dem Pseudonym seiner Hauptfigur, wurde 1956 von dem Anthropologen und Kybernetiker Gregory Bateson und dem Kameramann David Myers im Rahmen des Interaktionsforschungsprojekts «The Natural History of an Interview» gedreht und anschließend von einer interdisziplinären Gruppe von Psychiater:innen, Linguist:innen und Anthropolog:innen ausgewertet. Aus mikroanalytischer Perspektive beleuchtet Engelke die verschiedenen Akteur:innen, Netzwerke und filmischen Verfahren, die dazu beitrugen, dass der Film zu einer zentralen Referenz in damals aufkommenden Forschungsmethoden, dokumentarischen Filmpraktiken und experimentellen Filmdiskursen wurde.
Ihrer werblichen Logik zufolge funktionieren Tools zum Hochskalieren von Fotografien (wie Googles SR3-Modell) als Instrumente zur Verbesserung des Sehens, die verborgene Details in Bildern zum Vorschein bringen können. Wie Maria Eriksson in ihrem Beitrag zeigt, entspringt diese Vorstellung einem Glauben an eine Skalenmagie, die tiefere kulturelle Wurzeln hat. In ihrer Auseinandersetzung mit der konkreten Funktion von Upscaling-Tools kann Eriksson nicht nur zeigen, dass die vermeintliche Qualität der Bilder einen im wahrsten Sinne des Wortes äußerst durchschnittlichen Charakter hat, sondern auch, wie sich im Verfahren des Upscaling bestimmte kulturelle und technologische Komplexitäten unserer Gegenwart offenbaren.
Der Aufsatz von Stefan Höltgen beschäftigt sich mit der Bedeutung von Bits in der Computertechnologie, insbesondere in der 8-Bit-Ära. Höltgen erklärt, wie ein einzelnes Bit den Unterschied zwischen dem Funktionieren und Nichtfunktionieren von Computersystemen ausmachen kann. Dies illustriert er anhand historischer Beispiele, wie dem sogenannten «Morris Worm». Zudem beschreibt er, wie Bits in der Grafikdarstellung auf frühen Heimcomputern genutzt wurden, insbesondere bei der Programmierung von Spielen wie Smashout für den Sinclair ZX Spectrum. Höltgens Beitrag verdeutlicht die tiefgreifende Bedeutung kleinster Informationen in der Computergeschichte und deren Auswirkungen.
Der ARD-Teletext, einst als programmlicher und bildtechnologischer ‹Lückenfüller› eingeführt, ist trotz seiner einfachen grafischen Gestaltung bis heute ein fester Bestandteil der deutschen Fernsehlandschaft. Julia Herbachs Studie über den Teletext legt dessen medienhistorische und programmpolitische Bedeutung offen und lädt dazu ein, seine Rolle in der Entwicklung des digitalen Fernsehens neu zu bewerten.
Den Thementeil beschließt Patrick Vonderaus Beitrag zu den Grundlagen der Mikrogeschichte und insbesondere zum Begriff des «außergewöhnlich Normalen», geprägt vom italienischen Historiker Edoardo Grendi. Mit Grendis Begriff stellt sich die Frage nach einer Perspektive, die es erlaubt, die handlungsleitende Logik von Akteuren im Verhältnis zu den Beziehungen zu sehen, in denen diese stehen. Das «außergewöhnliche Normale» erlaubt es also der Mikrogeschichte, die Bedeutung individueller Handlungsmacht im Kontext historischer Ereignisse zu analysieren. Am medienhistorischen Fall der berühmten Afri-Cola-Werbekampagne von Charles Wilp aus den 1960er- und 1970er-Jahren veranschaulicht der Text die Vorteile dieses Ansatzes, etwa was den Umgang mit Primärquellen betrifft.
Außerhalb des Schwerpunkts zur Mikroanalyse, aber im Mikrogebiet der Analyse eines filmischen Details operierend, dessen Tragweite für die Filmerfahrung es heraus zu präparieren gilt, betrachtet Lucas Curstädt die Camcorder-Aufnahme als einen ‹Film im Film›, mit dem Charlotte Wells’ Aftersun (USA/GB 2022) beginnt und endet. Curstädt legt dar, wie Aftersun mit seiner Verklammerung von Blickinstanzen und Blickstrukturen auffordert zur Reflexion über medientechnologisch vermittelte Erinnerung, Gedächtnis und Identität. Die Analyse der Anfangs- und Endsequenz versteht sich als Beitrag zur Anthropomedialität des Films, in der sich die Arbeit am medienphilosophischen Konzept und am Gegenstand des Films wechselseitig informieren.
Sarah Bashir leistet einen Beitrag zur Erzähltheorie und -analyse von Computerspielen: Aufbauend auf dramentheoretischen Begrifflichkeiten und der konkreten Analyse textbasierter Adventure-Spiele wirft sie den Blick auf die performative Hervorbringung der Spielhandlung durch die Spielenden selbst. Narrative Potenziale von Videospielen im Allgemeinen und spezifischen Spiel-Genres im Besonderen werden somit als dem Medium eigen ausgewiesen und nicht länger als ‹aufgesetzte›, einer tieferliegenden Spielmechanik hinzugefügte Elemente.
Elena Meilicke befasst sich in ihrem Beitrag mit den autosoziografischen Dimensionen von Joanna Hoggs Filmen The Souvenir (UK 2019) und The Souvenir. Part II (UK 2021). Meilicke legt dar, wie die Regisseurin in ihren Filmen unter anderem ihre eigene Klassenherkunft verarbeitet, die etwa in Sprache, Habitus und Kleidung zum Ausdruck kommt. Eine wichtige Rolle in der autosoziografischen Erzählung kommt dem Set Design ihrer Wohnung zu. Meilickes Analyse zeigt, dass im Rahmen von Hoggs Autosoziografie die Wohnung durch metaleptische und andere Überschreitungen narrativer Grenzen zum hybriden Ort zwischen diegetischem Raum und Kulisse des Filmdrehs wird.
Ausgehend vom ‹The End›-Zeichen, dieser hervorgehobenen paratextuellen Schwelle zwischen Film und Wirklichkeit, die aus Filmabspannen heute weitgehend verschwunden ist, lotet Volker Pantenburg Konfigurationen des Ende-Topos in Film- und Kinokultur aus. Er spannt einen Bogen vom Ende eines einzelnen Films, Jack Arnolds The Incredible Shrinking Man aus dem Jahre 1957, zum allmählichen Ende analoger Medien, dem oft beschworenen Ende des Kinos im Zeitalter von Streaming- Diensten und zum Verlust der Bedeutung von Bildoberflächen angesichts automatischer Bildverarbeitungsprozesse.
Christine N. Brinckmanns «Fundsache: C. W. Cerams Buch Eine Archäologie des Kinos» beschreibt die Wandlung des Nazi-Kriegsreporters Karl Wilhelm Marek zum Verfasser des berühmten Bandes Götter Gräber und Gelehrte von 1949 unter umgestülptem Namen.
Wir beschließen diese Ausgabe von Montage AV mit der traurigen Aufgabe eines Nachrufs auf David Bordwell, dessen Aufsatz zum «Sehen und Vergessen in Mildred Pierce» der erste Artikel in dieser Zeitschrift überhaupt war. Den filmkognitivistischen Ansatz, für den Bordwell unter anderem stand, in der deutschsprachigen Filmwissenschaft bekannt zu machen, war uns bei Gründung der Montage AV ein wichtiges Anliegen. Für die Redaktion war David Bordwell nicht nur Ideengeber und ein akademischer Fixstern, sondern auch ein Freund und Verbündeter. Sein Tod reißt eine nicht zu füllende Lücke auf. Das nächste Heft von Montage AV ehrt sein Andenken mit einem Themenschwerpunkt «David Bordwell».
Die Redaktion1 Einen theoretischen Überblick zum Thema Mikrogeschichte und -analyse findet sich in Ausgabe 32/1 dieser Zeitschrift: Patrick Vonderau (2023) Mikroanalyse. Thesen zu einem Forschungsfeld. In: Montage AV 32,1, S. 155–170.