24/01/2015
Roland Barthes

Editorial:
Hundert Jahre Roland Barthes
(159 kB)

Guido Kirsten
Roland Barthes und das Kino.
Ein Überblick
(539 kB)

Roland Barthes
In Cinemascope (67 kB)

Roland Barthes
Das rechte und das linke Kino (314 kB)

Roland Barthes
Das Problem der Bedeutung im Film (94 kB)

Roland Barthes
Die ‹traumatischen Einheiten› im Film.
Prinzipien der Untersuchung
(85 kB)

Roland Barthes
Sade – Pasolini (71 kB)

Matthias Wittmann
Das Filmische ohne den Film.
Am Nullpunkt des Films mit Barthes
(427 kB)

Matthias Christen & Kathrin Rothemund
Für eine Theorie des kosmopolitischen Kinos. Literaturbericht und Forschungsprogramm (419 kB)

Karl Sierek
Kawakita. Kosmopolitismus und nationalistische Filmpolitik im Japan und Deutschland der 1930er Jahre (244 kB)

Evelyn Echle
«Alle wirklich guten Filmen, die ich gesehen habe, sind irgendwo verwurzelt». Walter Ruggle über das Kino aus Afrika, Asien, Osteuropa und Lateinamerika (712 kB)

Eirik Frisvold Hanssen
Die Herkunft der Farbe.
Film und die Technik der Spur
(1,3 MB)

Frank Kessler
Méliès / Metz: Zur Theorie des Filmtricks (467 kB)

Hans J. Wulff
Der Tanz der Puppen.
Die Kessler-Zwillinge und ihre Performances
(147 kB)

Editorial: Hundert Jahre Roland Barthes

«Bei Bréhal […] war der Raum noch überfüllter. Sie konnte die Stimme des Meisters nur vom Flur aus hören, eine langsame Stimme mit einem lasziven Vibrato. ‹Ich habe noch nie einen so betörenden Mann gehört›, gestand eine mit Jeans bekleidete blonde Frau, die sich auf die Zehenspitzen stellte, um ihr Idol sehen zu können. ‹Ich glaube, ich bin in ihn verliebt.› […] Bréhal sprach über Sodom und Gomorra [den vierten Teil der Suche nach der verlorenen Zeit]. Er zerlegte den Text von Proust Satz für Satz, Wort für Wort und fand Gefallen daran, die Fragmente dieser bekannten Passage, die den Erzähler beim Warten auf die unerreichbare Albertine beschreibt, aufeinander prallen zu lassen. […] Die wie in Zwiebelringen aufgereihten Studierenden der École normale supérieure waren fasziniert. ‹Er reinterpretiert Aristotles, was sage ich, er erfindet ihn neu, er verkörpert ihn›, raunte der bebrillte Cédric. ‹Das ist noch besser als eine Veranschaulichung des Kurses vom letzten Jahr über die Poetik. Bréhal erfindet eine richtige Poetik der Verliebten.› […] Nur indem wir Bréhal zuhörten, hatten wir das Gefühl jemand zu werden. Waren sie einverstanden? War sie selbst einverstanden? Die Frage stellte sich nicht: Alle waren verführt. Wie durch ein philosophisches Gespräch, eine regulierte Indiskretion, eine Höflichkeit, die weder vorgibt, etwas zu begründen noch etwas zu vermitteln» [Übers. G.K.].

In fiktionalisierter Form beschreibt Julia Kristeva hier ihre erste Begegnung mit Roland Barthes, der in ihrem autobiografischen Roman Les Samouraïs (1990) den Namen Armand Bréhal trägt. Überdeutlich die große Faszination, die von ihm – von seiner intellektuellen Aura ebenso wie von seiner ganzen Person (der besondere Charakter seiner Stimme etwa wird in Erinnerungen an Barthes immer wieder erwähnt) – auf die jungen Studierenden ausging. Aber seine Wirkung entfaltete sich nicht nur im persönlichen Umgang, seine Schriften zur Theorie der Literatur und zur semiotisch grundierten Ideologiekritik haben Generationen von Intellektuellen in der gesamten westlichen Welt beeinflusst.

Wäre Barthes nicht am 25. Februar 1980 auf der Rue de l’École von einem Milchtransporter angefahren worden und am 26. März an den Folgen dieses Unfalls gestorben, er hätte – wer weiß – in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag feiern können (geboren wurde er am 12. November 1915 im normannischen Küstenort Cherbourg).

Der Jahrestag dient uns als willkommener Anlass, einen Blick auf Barthes’ Schriften zum Film zu werfen. In der französischen Kinokultur hat er Spuren hinterlassen, nicht nur in der Theorie, auch in der Praxis. So gehörte er im März 1968, als sich in den Büros der Cahiers du cinéma der Widerstand gegen die Entlassung von Henri Langlois als Leiter der Cinémathèque Française organisierte, gemeinsam mit der ‹Crème de la crème› französischer Regisseure (Renoir, Godard, Truffaut, Resnais, Bresson, Carné, Chabrol, Lelouch, Rivette, Malle und Vadim) zum «Komitee der Verteidigung der Kinemathek». Seiner aus dieser Zeit herrührenden Freundschaft zu André Techiné, der damals Kritiken für die Cahiers schrieb und dem Barthes 1973 seinen Aufsatz «Diderot, Brecht, Eisenstein» widmete, verdankt sich ein Auftritt als Filmschauspieler: In Techinés Les Soeurs Brontë (Die Schwestern Brontë, F 1979) spielt er den englischen Romancier William Makepeace Thackeray (Abb. 1). Bei einem weiteren Film von Techiné, J’embrasse pas (Ich küsse nicht, F 1991), diente der Semiologe als Inspiration für die von Philippe Noiret verkörperte Hauptfigur Romain. Und der internationale Titel von Oshima Nagisas Skandalfilm Ai no korîda (F / J 1976), L’empire des sens, beruht auf einer Referenz zu L’empire des signes (1970), Barthes’ Buch über Japan.

Im Zentrum unsere Ausgabe stehen allerdings nicht derartige Anspielungen, Auftritte und Anekdoten, sondern die filmkritischen und -theoretischen Artikel von Barthes, und zwar insbesondere jene, die aufgrund der Tatsache, dass sie bislang weder auf Deutsch noch auf Englisch vorlagen, hierzulande praktisch unbekannt geblieben sind – und die es nun (neu) zu entdecken gilt. Wir eröffnen den Schwerpunkt mit einem Überblick von Guido Kirsten über Barthes’ Schriften zum Film, in dem die Bewegung seiner Auseinandersetzungen mit dem Medium nachgezeichnet werden: von frühen Filmkritiken über erste (später verdrängte oder verleugnete) Entwürfe einer Semiotik des Films bis zum Konzept des ‹dritten Sinns› und seiner Laudatio auf Michelangelo Antonioni. Besonders auf die folgenden Erstabdrucke geht Kirsten ein: auf den anlässlich der Einführung des neuen Breitwandformats verfassten «In Cinemascope» (1954); auf «Das rechte und das linke Kino» über Claude Chabrols Le beau Serge (Die Enttäuschten, F 1958); auf die beiden erstmals 1960 in der Revue international de filmologie erschienenen filmsemiotischen Texte «Das Problem der Bedeutung im Film» und «Die ‹traumatischen Einheiten› im Film» sowie auf den sechzehn Jahre später in Le monde veröffentlichten «Sade – Pasolini» über Salò (Die 120 Tage von Sodom, Pier Paolo Pasolini, I 1975).

Abgerundet wird der Schwerpunkt mit einem ausführlichen Kommentar von Matthias Wittmann, der bei Barthes’ anhaltender Skepsis gegenüber dem Medium Film ansetzt, um von dort aus gegenläufige oder gar utopische Momente aufzuspüren, die Wittmann als eine «Moral der Form» beschreibt. Im Cinemascope-Format, das als «Raumwerden» der Diegese gefeiert wird, in der «kinetisch-immersiven Wucht» von Eisensteins berühmter Treppenszene von Odessa und in der traumatischen Buchstäblichkeit von Pasolinis Salò sieht Wittmann Denkfiguren vorweggenommen, die Barthes später – jenseits oder gar gegen den Film – als punctum oder «Wirklichkeitseffekt » erörtert. Das Filmische, so Wittmanns Fazit, wird für Barthes zur anhaltenden Spannung zwischen dem Sagbaren und dem Sichtbaren.

Den zweiten Schwerpunkt des Heftes bilden Überlegungen zum Konzept des kosmopolitischen Kinos, sowohl in seiner historischen Bedeutung wie auch in seiner Aktualität. Matthias Christen und Kathrin Rothemund präsentieren ihr Forschungsprogramm zu einer Ästhetik des Kosmopolitischen jenseits der sozialen und diskursiven Praxen eines historischen Dritten Kinos. Ihr Versuch, das kosmopolitische Kino als neues filmtheoretisches Konzept zu etablieren, steht vor der Aufgabe, einerseits die Theorietradition des Kosmopolitischen mit Blick auf den Film und seinem ästhetischen Eigenwert weiterzudenken und andererseits die filmtheoretische Kategorienbildung innerhalb der breitgefächerten Debatte über Kosmopolitismus zu positionieren. Auf eine historische Spurensuche deutsch-japanischer Filmbeziehungen begibt sich Karl Sierek in seinem Text, der einen Einblick in ein (fast abgeschlossenes) Buchprojekt über die Bilderwanderung zwischen Ostasien und Europa gibt. Mit Nagamasa Kawakita präsentiert uns Sierek einen japanischen Aristokraten und ambivalenten Kosmopoliten der 1930er Jahre. In seiner Filmexport- und -importfirma arbeitete Kawakita an einer kosmopolitischen Kultur und Kunst des Kinos, im Laufe der Zeit stellte er seine Wirken allerdings zunehmend in den Dienst faschistischer Politik. Dieses Paradox der Unterwerfung globaler Weltläufigkeit unter das Regime nationalistischer Engstirnigkeit untersucht Sierek anhand der von Kawakita produzierten oder ex- und importierten Filme.

Das Dossier beschließt ein Interview, in dem Evelyn Echle den Direktor der Stiftung trigon film, Walter Ruggle, zu kuratorischen Prinzipien und den Umgang mit Filmen aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Osteuropa befragt. Neben der Kritik an einigen Festivalbetreibern für ihren Umgang mit Filmemacher_innen aus Ländern mit einer fragilen Filmkultur betont Ruggle vor allem die Wichtigkeit konservatorischer Arbeit. Nur indem man das audiovisuelle Erbe durch sorgfältige Restaurierungen bewahre und weiter zugänglich erhalte, könne eine Welt-Filmgeschichte nachvollzogen werden, die über das Eurozentrische und Nordamerikanische hinausreiche.

Außerhalb der beiden Schwerpunkte stellt Eirik Frishold Hanssen seine Überlegungen zu filmischen Farbtechniken und einer diskursiven Einbettung des Begriffs der Spur vor. Hanssen fragt, wie der Farbe im Film eine stabile Funktion zugewiesen werden kann: Handelt es sich bei ihr um eine Qualität des Lichts oder um eine materielle Qualität des Mediums Film? Anhand historischer Herstellungsprozesse soll nachvollzogen werden, wie filmische Farbtechniken den Stellenwert der Spur verstärken, gleichzeitig aber auch problematisieren.

Auch im folgenden Artikel verbinden sich Filmtechnik- und Theoriegeschichte: Frank Kessler diskutiert in seiner Gegenüberstellung der Betrachtungen von Georges Méliès zum Filmtrick (1907) und der fast siebzig Jahre später erschienenen Überlegungen des Filmsemiotikers Christian Metz zum gleichen Thema historische Veränderungen im Stellenwert von Tricks und Special Effects.

Der Abschluss unseres Heftes ist zugleich ein Ausblick auf das kommende, das sich dem Thema der Choreografie widmen wird: Hans J. Wulff erinnert mit Alice und Ellen Kessler an das berühmte Zwillingspaar der deutschen Musikszene. Die über mehrere Jahrzehnte währende Bühnen-, Film- und Fernsehpräsenz der tanzenden Schwestern nimmt Wulff zum Anlass, um über generelle Fragen zur Figur der Revuetänzerin und über das German Icon nachzudenken.

Für die Redaktion:
Evelyn Echle & Guido Kirsten

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