
Editorial
David Bordwell
Christine N. Brinckmann
Bordwells Prinzip der Unvoreingenommenheit
Charlie Keil
David Bordwell als Lehrer
Maureen Turim
Die Poetik von David Bordwells Ozu
Eine persönliche Würdigung
Marc Vernet
Die Methode Bordwell
Casper Tybjerg
Dreyer und der Stil des Tonfilms
Zu Bordwells historischer Poetik
Christoph A. Büttner
Making Connections
Diskursdenken mit David Bordwell
Lucas Curstädt
Schuss/Gegenschuss
Zum Streit zwischen David Bordwell und Slavoj Žižek
Ausserhalb des Schwerpunkts
Jean-Louis Comolli
Mein liebster Feind?
Daniel Fairfax / Michael Karrer / Christine Moderbacher /
Hanna Prenzel
Politischer Antagonismus im Dokumentarfilm
Ein Gespräch mit Simon Brückner und Marcelo Pedroso
Margrit Tröhler
Godard, die Schweiz, Gaddafi und andere Dissoziationen
In Memoriam
Klaus Kreimeier
Ein Nachruf von Kay Hoffmann
Editorial
David Bordwell (23. Juli 1947 – 29. Februar 2024) war, vor allem in den Anfangsjahren von Montage AV, ein wichtiger Bezugspunkt für unsere Redaktion. Nicht nur, weil er uns für das erste Heft einen bis dahin unveröffentlichten Aufsatz zur Verfügung stellte (Bordwell 1992), sondern vor allem wegen seiner grundlegenden Arbeiten, mit denen er, nicht selten in polemischer Abgrenzung zu konkurrierenden Strömungen, einen Filmwissenschaflichen Ansatz vertrat, der (uns) neue Perspektiven eröffnete. Die von ihm zusammen mit Janet Staiger und Kristin Thompson verfasste Studie zum Classical Hollywood Cinema (1985) verband die Arbeitsweise der New Film History und deren Interesse an den ökonomischen, technischen und organisatorischen Voraussetzungen der Filmproduktion mit einer theoretisch fundierten Analyse der charakteristischen Erzähltechniken und einer quantitativ gestützten Beschreibung der dominanten Merkmale dieses Kinos. Nahezu zeitgleich erschien Narration in the Fiction Film (Bordwell 1985), in dem Bordwell eine Untersuchung unterschiedlicher filmischer Erzählmodi mit einer Theorie des aktiven Zuschauens verknüpfte, die er dezidiert als Gegenpol zu psychoanalytisch geprägten Modellen entwarf.
Diese integrative Herangehensweise weckte in den 1980er- und 1990er-Jahren die Hoffnung auf eine kooperative Filmwissenschaft, in der aus unterschiedlichen Blickwinkeln wichtige Fragestellungen diskutiert werden konnten – durchaus auch unter Einschluss von theoretischen Strömungen, denen Bordwell ablehnend gegenüberstand. Denn wie Stephen Lowry, ebenfalls im ersten Heft der Montage AV, argumentierte (Lowry 1992), könnten diese Zugänge eher als komplementär denn als antagonistisch aufgefasst werden. Das zunächst in polemischer Absicht verwendete Etikett «Wisconsin Project» wurde in unserer Zeitschrift von Britta Hartmann und Hans J. Wulff positiv gewendet als eine von David Bordwell, Kristin Thompson und anderen verfolgte Bestrebung, in einem «Dreieck» von neoformalistischer Filmanalyse, kognitiv orientierter Filmtheorie und historischer Poetik des Films «in Richtung auf die Entwicklung einer umfassenden stilistischen Filmhistoriografie» voranzuschreiten (Hartmann/ Wulff 1995, 6).
Gleichzeitig war das «Wisconsin Project» Zielscheibe heftiger Angriffe, vor allem nach Bordwells kritischer Analyse der in der Filminterpretation vorherrschenden Rhetoriken und Argumentationsweisen (Bordwell 1989) sowie dem zusammen mit Noël Carroll herausgegebenen Sammelband Post-Theory (Bordwell/Carroll 1996), einer Abrechnung mit sogenannten «Grand Theory»-Ansätzen. Der Untertitel «Reconstructing Film Studies» erhebt einen provokativ gemeinten Anspruch, der auf manche wie ein rotes Tuch wirkte. Bei Bordwell, Carroll und anderen fungierte «Grand Theory» wiederum als Oberbegriff für ein ganzes Konglomerat theoretischer Richtungen poststrukturalistischer, psychoanalytischer und marxistischer Provenienz, die einigermaßen undifferenziert – und deshalb auch angreifbar – zu einer Negativfolie kombiniert wurden. Da diese Theorien im Allgemeinen links verortet werden, führte das im Umkehrschluss dazu, dass Bordwell nun als «rechts» galt, während er tatsächlich in seiner Haltung und seinem Engagement immer schon zur politischen Linken gehörte (man lese seine Blogeinträge zu Donald Trump).
In seiner Arbeit ging es Bordwell vor allem darum, als Filmwissenschaftler eng am Material zu bleiben, seine Analysen auf genaue Beobachtungen zu stützen und filmische Verfahren als rationale Entscheidungen der Filmschaffenden zu betrachten, mit denen sie spezifische technische, ästhetische, dramaturgische oder erzählerische Probleme zu lösen suchten. Er war gewiss nicht blind für kulturelle, politische oder ideologische Faktoren, doch er bezweifelte, ob diese bei der konkreten Arbeit des Filmemachens leitend seien. Bordwell ging es vor allem um Fragen der historischen Stilentwicklung, und er betrachtete die kinematografischen Ausdrucksmittel als Werkzeuge, auf welche die Filmproduktion als «Handwerk» (craft) zugriff. Nicht zuletzt deswegen wurden seine Studien zum Stil von Filmschaffenden unterschiedlicher Zeiten, Kulturen und Schulen nicht nur gelesen, sondern auch geschätzt.
Ohne Zweifel gehörte David Bordwell in den vergangenen vier Jahrzehnten mit seinen Büchern, Blogposts, Audiokommentaren und nicht zuletzt durch seine Lehre und seine Vorträge zu den wichtigsten Stimmen in der Filmwissenschaft. Mit dem Schwerpunkt dieses Hefts wollen wir sein Werk würdigen und gleichzeitig einige Facetten seiner Arbeit beleuchten, die im deutschsprachigen Raum bislang wenig Beachtung fanden oder weitgehend unbekannt sind.
Christine N. Brinckmann behandelt in ihrem Beitrag ein prägendes Merkmal von Bordwells Arbeiten: das Prinzip der Unvoreingenommenheit. In den 1980ern war es keineswegs selbstverständlich, das Hollywoodkino ernst zu nehmen, es nicht nur einer allgemeinen Ideologiekritik zu unterwerfen oder mehr als einen begrenzten Kanon von Autoren überhaupt gelten zu lassen. Ganz zu schweigen von den Kungfu-Filmen aus Hongkong, die in Deutschland vor allem in Bahnhofskinos und weit unter dem Radar der cinephilen Filmkritik liefen. Bordwell betrachtete sie nicht anders als die Filme von Yasujiro Ozu, Carl Theodor Dreyer oder Sergej M. Eisenstein.
Charlie Keil, ehemaliger Student Bordwells an der University of Wisconsin- Madison, zeichnet ein Porträt David Bordwells als Lehrer, basierend auf seinen eigenen Erfahrungen sowie auf denen anderer Studierender. Bordwells pädagogisches Ethos hat sie alle geprägt und ihre Lau&ahn als Lehrende in vielerlei Hinsicht beein(usst. Auch Maureen Turim hat in Madison bei ihm studiert. Sie berichtet von seinem Seminar zu Ozu und bietet neue Einblicke in die Genese seiner dem japanischen Regisseur gewidmeten Monografie (Bordwell 1988). Der französische Filmwissenschaftler Marc Vernet rekonstruiert anhand von Bordwells vorletztem Buch Reinventing Hollywood (2017) die «Methode Bordwell», eine in vielen Studien bewährte Arbeitsweise, die hier zu einem neuen Blick auf die Praxis der Filmschaffenden als «cooperative competition» führt und getragen wird vom geradezu liebevollen Blick des passionierten Kinogängers Bordwell auf die Filme, mit denen er aufgewachsen ist.
Der dänische Filmhistoriker Casper Tybjerg belegt die Produktivität des Ansatzes einer historischen Poetik, indem er in seinem Beitrag eine Beobachtung Bordwells in dessen Studie zu den Filmen Carl Theodor Dreyers aufgreift und anhand von inzwischen zugänglichen Primärquellen vorschlägt, sie zu modifizieren. Also ganz im Geiste Bordwells, der ja stets dafür plädiert hat, Forschungsergebnisse im Licht neuer Erkenntnisse immer wieder zur Diskussion zu stellen.
Christoph A.Büttner unternimmt es, eine Verbindung zwischen Bordwells Ansatz und einer diskurstheoretisch informierten Perspektive auf Film zu knüpfen. Er zeigt nicht nur, dass beide grundsätzlich miteinander kombiniert werden können (Bordwells immer wieder vorgenommener Abgrenzungsversuche zum Trotz), sondern insbesondere, dass beide entscheidend voneinander profitieren: Die abstrakte Diskurstheorie Chantal Mouffes und Ernesto Laclaus erhält so eine Konkretisierung an der audiovisuellen Textur des Films, während Bordwells Analysen gesellschaftspolitisch verankert werden. Dass eine solche ‹friedliche Koexistenz› nicht immer möglich ist, wird aus Lucas Curstädts Kommentar zu der Auseinandersetzung Bordwells mit dem slowenischen Philosophen Slavoj )i*ek deutlich. Curstädt vergleicht die gegenseitigen Angriffe und jeweiligen Repliken mit einem Ping-Pong-Spiel, bei dem die beiden Kontrahenten nicht sehen wollen, dass sie an verschiedenen Platten stehen.
Außerhalb des Schwerpunkts beschäftigen wir uns mit der Frage, wie angesichts des Erstarkens rechtsextremer, islamistischer und anderer demokratiefeindlicher Kräfte mit politischen Antagonist:innen im Medium des Films umgegangen werden kann. Stärkt jede Repräsentation die Demokratiefeinde? Gibt es Formen der Subversion, der Anti-Demagogie? Welches Potenzial haben bewegte Bilder? Diese und andere Fragen stellte sich Jean-Louis Comolli schon vor 30 Jahren, als er in mehreren Filmen unter anderem den Front National bei dessen (erfolgreichem) Wahlkampf im Süden Frankreichs begleitete. Das Resultat dieser Überlegungen, sein Text «Mein liebster Feind?», liegt nun erstmals auf Deutsch vor. Er bildet die Grundlage einer Reihe von Fragen, die Daniel Fairfax, Michael Karrer, Christine Moderbacher und Hanna Prenzel zwei Dokumentarfilmern gestellt haben, die in ihrer Arbeit mit vergleichbaren Problemen konfrontiert waren: Simon Brückner, der in Eine deutsche Partei (D 2022) die AfD und ihre Jugendorganisation, die als gesichert rechtsextrem geltende Junge Alternative, porträtiert, sowie Marcelo Pedroso, der in Por Tras Da Linha De Escudos (Behind The Shield Line, BRA 2023) seinen eigenen filmischen Umgang mit einer militarisierten Spezialeinheit der brasilianischen Polizei re(ektiert. Ihre unterschiedlichen Strategien im Umgang mit politischen Feind:innen und deren Erläuterung im Round-Table-Gespräch setzen eine Diskussion fort, von der wir angesichts aktueller politischer Entwicklungen annehmen müssen, dass sie so bald nicht abreißen wird.
Margrit Tröhler geht in ihrem Aufsatz der ikonoklastisch-künstlerischen Positionierung sowie der filmischen Poetik Jean-Luc Godards in Beziehung zu den Ländern seines Lebens, Frankreich und der Schweiz, nach. Sie skizziert seine Flucht aus der von ihm – wie von anderen schweizerischen angry (young) men des 20. Jahrhunderts – so empfundenen geistigen Enge der Schweiz nach Paris als Ort ideeller und ästhetischer Anregung und die schließliche Rückkehr ins Schweizer Grenzland über dem Genfersee. Tröhler zeigt an Godards Filmarbeit vor allem der späteren Jahre: Seine Selbst-und Fremderfahrung zwischen den Welten ist paradox. Für ihn ist ‹Heimat› kein realer Ort, sondern eine komplexe Chiffre, und die Weite sucht er im Kino …
In diesem Jahr ist Klaus Kreimeier gestorben. Er hat eine formende Rolle in der Entwicklung der Film-und Fernsehwissenschaft in Deutschland gespielt, obwohl er aus politischen Gründen erst spät auf eine Professur berufen wurde. In Zeitungen, Zeitschriften, im Rundfunk und als Autor mehrerer Bücher nahm er Stellung zu Themen von der frühen Filmkultur bis zum Fernsehalltag. In seinem Nachruf nimmt Kay Hoffmann für und mit uns Abschied von diesem, wie er schreibt, engagierten Kämpfer für die Film- und Fernsehgeschichte.
Frank Kessler für die RedaktionLiteratur
-
Bordwell, David (1985) Narration in the Fiction Film. Madison: University
of Wisconsin Press.
— (1988) Ozu and the Poetics of Cinema. London: BFI Publishing / Princeton: Princeton University Press.
— (1989) Making Meaning. Inference and Rhetoric in the Interpretation of Cinema. Cambridge, MA / London: Harvard University Press.
— (1992) Kognition und Verstehen. Sehen und Vergessen in Mildred Pierce. In: Montage AV 1,1, S. 5–24.
— (2017) Reinventing Hollywood: How 1940s Filmmakers Changed Movie Storytelling. Chicago: University of Chicago Press.
— / Carroll, Noël (Hg.) (1996) Post-Theory: Reconstructing Film Studies. Madison: University of Wisconsin Press.
— / Staiger, Janet / Thompson, Kristin (1985) The Classical Hollywood Cinema: Film Style and Mode of Production to 1960. New York: Columbia University Press. - Hartmann, Britta / Wulff, Hans J. (1995) Vom Spezifischen des Films. Neoformalismus – Kognitivismus – Historische Poetik. In: Montage AV 4,1, S. 5–22.
- Lowry, Stephen (1992) Film – Wahrnehmung – Subjekt. Theorien des Filmzuschauers. In: Montage AV 1,1, S. 113–128.