22/01/2013
Produktion

Editorial

Patrick Vonderau
Theorien zur Produktion: ein Überblick

John T. Caldwell
Zehn Thesen zur Produktionsforschung

Miranda J. Banks
Heroische Körper. Die verborgene Arbeit von Stuntfrauen

Marc Vernet
Die continuity scripts der Firmen Triangle
und Kay Bee (1913–1917), oder: «Wo bleibt der Regisseur?»

Petr Szczepanik
Wie viele Schritte bis zur Drehfassung?
Eine politische Historiographie des Drehbuchs

Florian Hoof
The Art of Flight: Produktion, Distribution
und Ästhetik im ‹neuen Sportfilm›

Roel Puijk
Fernsehen im Netz. Eine Produktionsstudie
zum norwegischen Rundfunk

Editorial

Während eines 2011 geführten Interviews mit dem Daily Telegraph äußerte der britische Schauspieler Andy Serkis seinen Unmut darüber, bei der Oscar-Verleihung für seinen Auftritt in Rise of the Planet of the Apes (USA 2011, Rupert Wyatt) übergangen worden zu sein. Serkis, der seinen internationalen Durchbruch den Motion- und Performance Capture-Darstellungen von Gollum in The Lord of the Rings (USA/NZ 2001-2003, Peter Jackson), von King Kong (USA/ NZ 2005, Peter Jackson) und vor allem dem Porträt eines empathie- und sprachbegabten Schimpansen namens Caesar in Wyatts Affenfilm von 2011 verdankt, zeigte sich verärgert über die fehlende Anerkennung. «Performance Capture wird immer noch missverstanden», klagte Serkis, «zehn Jahre später heißt es dann: ‹Ach, Sie haben damals für Gollum die Stimme gemacht?›, oder: ‹Sie waren das, der King Kong in Bewegung versetzt hat?› Das ist frustrierend, weil ich Gollum und Kong darstelle. Bei meiner Arbeit handelt es sich um Schauspielerei.» In der BBC legte Serkis nach: «Zunächst geht es darum, die Darstellung digital aufzuzeichnen. Erst im späteren Verlauf werden die Figuren mit Pixeln Bild für Bild übermalt. Performance Capture ist die einzige Möglichkeit, diese Filmgestalten zum Leben zu erwecken – so war das mit Gollum, King Kong und den Na’vi in Avatar, es ist tatsächlich nur eine andere Art, die Darstellung eines Schauspielers aufzuzeichnen. Man muss kein Affenkostüm mehr tragen und auch keine prothetische Maske, die einem nachträglich mithilfe digitaler Effekte übergestülpt wird. Mehr ist Performance Capture nicht: bloß digitales Make-up.» 1

Es sei dahingestellt, ob Serkis’ Kommentar auf Unkenntnis der Visual Effects-Industrie beruht, ob er damit seine Leistung als Schauspieler aufwerten wollte oder ob die Redeweise von ‹MoCap› als ‹Make-up› Teil einer von den Studios mit Blick auf die Academy Awards geführten Kampagne war, die das Erlebnis mit den überscharfen Pixel- Welten von Weta Digital oder Double Negative in die Begriffe und Werte der analogen Filmkultur übersetzen sollte. 2 Zweifelsfrei jedoch verärgerten Serkis’ Worte die Animatoren und Produktionsschaffenden innerhalb der VFX-Branche. Wenn schon jede auf Leinwand oder Bildschirm zu erlebende Figur Ergebnis eines komplexen arbeitsteiligen Prozesses ist – man denke nur an die Stunts in Action-Serien oder die Glanzlichter, Frisuren und Kostüme bei einem Star wie Rita Hayworth –, dann gilt dies in besonderem Maße für eine Kreatur wie Gollum oder Kong. Vor allem insofern, als Motion und Performance Capture die Körperbewegung oder Mimik von Darstellern bekanntlich nicht direkt oder automatisch auf das Skelett einer digitalen Figur übertragen (vgl. Flückiger 2008, 145-153; North 2008, 180). Einerseits ist diese Übertragung träge und unscharf, was sekundäre, also durch andere Bewegungen ausgelöste Bewegungen betrifft, so etwa die Wirkung der Schwerkraft oder äußeren Drucks auf Haut, Muskeln und Körperfett, die als wesentlich dafür gelten, die Regungen einer Figur als menschenähnlich glaubhaft zu machen. 3 Andererseits handelt es sich überhaupt nur begrenzt um eine Übertragung, weil im Unterschied zur analogen Filmaufzeichnung nicht benutzt werden muss, was der Darsteller geliefert hat, und weil seine Bewegungen nachträglich mit denen anderer Akteure (anderer Schauspieler, aber zum Beispiel auch Special Effects Dummies) verschmolzen werden können. Motion Capture trennt die Bewegung von der sichtbaren Erscheinung des sich bewegenden Körpers, macht sie austauschbar und so zur Grundlage der Animation einer Figur (vgl. Lundemo 2009).

Statt Serkis als Opfer einer gezielten «MoCap-Diskriminierung» 4 zu sehen, die kaum weniger grausam wäre als der Lebensweg des von ihm verkörperten Affen, ließe sich also auch auf das Talent der namenlosen Animatoren verweisen, deren Arbeit die Illusion einer Oscar-würdigen schauspielerischen Einzelleistung erst ermöglicht. Statt Interviews und die Branchenpresse schlicht als das zu lesen, was sie zu sein vorgeben, kann man sie auch als Teil interner Auseinandersetzungen verstehen, die das Verhältnis verschiedener Berufsgruppen innerhalb einer lokalen Produktionskultur prägen. Man kann über den Wandel solcher Produktionskulturen nachdenken, wie er sich am Beispiel des Motion Capture in einer neuen Form von Zeitlichkeit ankündigt oder auch im Blick auf die veränderte Wahrnehmung des Werts und der Spezifik ästhetischer Erfahrung. Eines kann die Film- und Medienwissenschaft indessen nicht: ignorieren, dass die Medienproduktion eines ihrer zentralen Gegenstandsfelder bildet.

Montage AV lädt ein, Produktion als ein Forschungsfeld zu erkunden, das Aufschlüsse über den Film unter postkinematographischen Bedingungen erlaubt, die institutionelle Spartenbildung von ‹Film› versus ‹Fernsehen› zu problematisieren hilft und spekulative Theoriebildung an technische, ökonomische oder ästhetische Praktiken zurückbindet. Gerade die Medientheorie braucht den Kontakt mit der Praxis oder, um eine Analogie des zur Zeit gern zitierten Kunstsoziologen Antoine Hennion (1989) aufzunehmen, den Gang in die Küche statt den Blick ins Menü. Gerade weil Praktiken nicht einfacher oder direkter zugänglich sind als Texte, laden wir mit diesem Themenheft zur Erschließung dieses neuen Forschungsfeldes ein.

Patrick Vonderau zeichnet in seinem einleitenden Beitrag die vielschichtigen und überraschenden Genealogien nach, die den Diskurs der Produktionsforschung prägen und die ihm in gegenwärtig gern beschworenen disziplinären ‹Krisen› eine besondere Vitalität verleihen. In seinem Überblick, der den Bogen von frühen US-amerikanischen Filmreportagen bis zu Akteur-Netzwerk-Soziologien europäischer Produktionen spannt, identifiziert Vonderau drei zentrale Merkmale, mit denen sich die aktuelle Forschung von tradierten historischen und soziologischen Untersuchungen abgrenzt.

In einem fachpolitisch gewichteten Essay warnt John T. Caldwell vor der von ihm beobachteten Tendenz, die traditionellen film- und fernsehwissenschaftlichen Arbeits- und Denkweisen über Bord zu werfen, wenn es um die Erforschung der Medienindustrie geht. Seine jahrzehntelange Feldforschung in Los Angeles und seine eigene Tätigkeit in der Branche zum Ausgangspunkt nehmend, argumentiert Caldwell auf provokante Weise dafür, den industrieanalytischen Nutzen eben jener Ansätze und Theorien anzuerkennen, deren Vertreter sich am vehementesten gegen die Produktionsforschung sperren.

Miranda J. Banks liefert in ihrer Studie Einblicke in die Arbeit von Stunt-Darstellern in Hollywood. Banks, die neben Julie D’Acci und Vicki Mayer maßgeblich zur feministischen Profilierung der Produktionsforschung beigetragen hat, widmet sich dabei vor allem weiblichen Stunt-Doubeln, deren ebenso riskante wie prekäre Arbeitspraktiken sie über die Geschichte der einschlägigen Verbände und Gewerkschaften, die Fach- und Publikumspresse sowie mithilfe von Interviews erschließt.

Marc Vernet rekonstruiert in einem historischen Aufsatz den Produktionsprozess und die Arbeitsorganisation zweier Firmen der 1910er Jahre, Triangle und Kay Bee. Er greift dabei auf das in den erhaltenen Firmenarchiven überlieferte Material zurück. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen stehen die verschiedenen Funktionen des continuity script, des Arbeitsdrehbuchs, das Vernet als kinematographische Formgebung und nicht einfach als Umsetzung einer literarischen Geschichte betrachtet.

Prozesse der Stoffentwicklung und des Drehbuchschreibens stehen auch im Zentrum des Artikels von Petr Szczepanik, dessen Interesse der Frage gilt, wie makro- und mikropolitische Faktoren bei der Arbeit am Skript zusammenspielen. Seine detaillierte Analyse der historischen Entwicklung der Drehbuchproduktion in der Tschechoslowakei zwischen 1945 und 1990 beleuchtet das Ineinandergreifen von Direktiven, Organisationsformen/-einheiten, standardisierten Formen einerseits und informellen Arbeitsweisen, langfristigen Traditionen sowie der Mikropolitik von Arbeitsabläufen in der Praxis des Drehbuchschreibens andererseits. Dabei konzentriert Szczepanik sich insbesondere auf das sogenannte literarische Drehbuch mit dem Ziel, entscheidende Merkmale in der Produktionsweise der Ostblockländer herauszuarbeiten, die sich grundsätzlich von der im westlichen System unterscheidet.

Florian Hoof beschäftigt sich in seinem Text mit der Surf-, Skate- und Snowboard-Filmindustrie. Diese hat sich im letzten Jahrzehnt von einem Nischenbereich für Fans zu einer Produktionsökonomie gewandelt, die ein beachtliches Publikum außerhalb herkömmlicher Vertriebswege erreicht. Maßgeblich finanziert von Sponsoren, demonstrieren die von Hoof untersuchten ‹neuen Sportfilme› einen Wandel der Produktionskultur, der mit der Einführung neuer Filmtechnik ebenso zusammenhängt wie mit der entdeckten Nähe zum Gebrauchs- und Werbefilm. So wird der Sportfilm, wie Hoof treffend argumentiert, zum paradigmatischen Fall für Produktion unter postkinematographischen Bedingungen.

Was bedeutet das Internet für die Zukunft des Fernsehens? Roel Puijk beantwortet diese häufig gestellte Frage, indem er sie auf die Produktionsebene bezieht. Anhand einer Langzeitstudie zu Norwegens öffentlich- rechtlicher Fernsehanstalt Norsk Rikskringkasting (NRK), die auf partizipierender Beobachtung und Interviews beruht und der Entwicklung einer Gesundheits- und Lifestyle-Sendung namens Puls folgt, zieht er nüchterne Bilanz. Demnach dominiert in der täglichen journalistischen Fernsehpraxis bei NRK weniger Konvergenz, als vielmehr eine neue Form der Mediendivergenz. Seine Fallstudie schlägt einen Bogen zurück zu unserem Themenheft ‹Neues Fernsehen› (Montage AV 21/1/2012), in dem wir uns kritisch mit Konzepten der Fernsehtheorie beschäftigt haben

  • 1  Andy Serkis, zit. n. Ben Child, «Andy Serkis: Why Won’t Oscars Go Ape Over Motion- Capture Acting?». In: The Guardian, 12. August 2011.
  • 2  Hierfür sprechen die öffentlichen Stellungnahmen von 20th Century Fox, was Serkis’ Leistung betrifft, aber etwa auch James Camerons Einsatz für MoCap-Darstellerin Zoe Saldana in Avatar (USA 2009).
  • 3  Ich berufe mich hier auf ein laufendes Forschungsprojekt der Medienwissenschaftlerin und VFX-Produzentin Sarah K. Hellström (Universität Stockholm) und die im Rahmen ihrer Projektarbeit u.a. mit Mathias Larserud (Senior VFX Artist, Weta Digital) und Steve Aplin (Creative Head of Animation, Double Negative) geführten Interviews.
  • 4  Hugh Hart, «When Will a Motion Capture Actor Win an Oscar?». In: WIRED Magazine, 24. Januar 2012; URL: www.wired.com/underwire/2012/01/andy-serkisoscars/ (zuletzt besucht am 1. August 2013).

Für die Redaktion: Patrick Vonderau

Literatur

  • Flückiger, Barbara (2008) Visual Effects. Filmbilder aus dem Computer. Marburg: Schüren.
  • Hennion, Antoine (1989) An Intermediary between Production and Consumption: the Producer of Popular Music. In: Science, Technology and Human Values 14, S. 400-424.
  • Lundemo, Trond (2009) Charting the Gesture. In: Eurozine, 21. Juni 2011; URL: www.eurozine.com/articles/2011-06-21-lundemo-en.html (zuletzt besucht am 1. August 2013).
  • North, Dan (2008) Performing Illusions: Cinema, Special Effects, and the Virtual Actor. London: Wallflower Press.

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