Editorial (PDF 69 kB)
Prolog: Eine Straßenszene in Paris (PDF 36 kB)
Eef Masson
Didaktik vs.
Pädagogik. Ein kontextueller Ansatz für die Untersuchung von
Unterrichtsfilmen (PDF 149 kB)
Valérie Vignaux
Eine
Encyclopédie der Leinwand. Der institutionelle Diskurs des Kinos im
Frankreich der Zwischenkriegszeit und die Filme von Jean Benoit–Lévy
(1922–1939) (PDF 368 kB)
Roxane Haméry
Kino und
Unterricht. Die fabelhafte Lektion in Unehrerbietigkeit des Jean
Painlevé (PDF 485 kB)
Anita Gertiser
Domestizierung des bewegten Bildes. Vom dokumentarischen Film zum
Lehrmedium (PDF 103 kB)
Yvonne Zimmermann
Vom
Lichtbild zum Film. Anmerkungen zur Entstehung des Industriefilms (PDF 320 kB)
Pierre-Emmanuel Jaques
Werben, zeigen oder verbergen? Zum Tourismusfilm in der Schweiz
(PDF 247 kB)
Urs Stäheli / Dirk Verdicchio
Das Unsichtbare sichtbar machen. Hans Richters Die Börse als
Barometer der Wirtschaftslage (PDF 192 kB)
Florian Hoof
<The One Best
Way>. Bildgebende Verfahren der ökonomie und die
Innovation der Managementtheorie nach 1860 (PDF 131 kB)
Vinzenz Hediger
Von Hollywood lernen heißt führen lernen. Spielfilme als Schulungsfilme
in der Managementausbildung (PDF 132 kB)
Eva Hohenberger
Gedenken als
Gebrauch. Über die Auftragsfilme der KZ-Gedenkstätte
Buchenwald (PDF 269 kB)
Editorial
Den Filmtheoretiker der Gegenwart erkennt man unter anderem daran, dass er in Apparate-Analogien denkt und kulturelle Prozesse auf ihre Affinität zur technischen Struktur des Mediums hin befragt. Für MaryAnn Doane etwa ist der Film das Medium des «Zeitalters der Wahrscheinlichkeit» (Ian Hacking), also des ausgehenden 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, weil er als technisch- industrielles Gerät der Speicherung und Rationalisierung von Zeit, aber auch der Aufzeichnung des Zufälligen, bloß Möglichen und nicht Notwendigen, Kontrolle und Kontingenz verbindet, zwei ebenso grundlegende wie gegenläufige Momente der Moderne (Doane 2002). Für Akira Lippit wiederum ist das Kino nicht nur ein Medium, in dem Tiere auftreten. Es ist vielmehr selbst Tier, d.h. ein Mechanismus-Organismus von animalischer Qualität, der dem Tier in seiner mechanistischen Konzeption, wie sie von der Wissenschaft der frühen Neuzeit entwickelt wurde, strukturell verwandt ist, und der im Prozess der Moderne an die Stelle der Tiere getreten ist, die aus der Lebenswelt der Menschen verschwunden sind (Lippit 2000). Für Scott Curtis schließlich ist die rasche Ausbreitung des Films in den Wissenschaften im frühen 20. Jahrhundert Ergebnis einer «natürlichen Anziehung» zwischen Kino und Wissenschaft, die auf einer strukturellen Affinität der wissenschaftlichen Praxis und der «Grundform des Kinos» beruht (Curtis 2005, 25). Einmal abgesehen von ihrer nordamerikanischen Herkunft dieser Autoren verbindet eine gemeinsame Wurzel ihr Denken des Kinos. Was sie vorschlagen, sind Variationen und Deklinationen der Ur-Analogie der akademischen Filmtheorie, der Analogie zwischen filmischem und psychischem Apparat, die Münsterberg 1916 inauguriert und die mit der psychoanalytischen Filmtheorie in den 1970er Jahren ihre bis heute nachwirkende Prägung erhält. Ist die Entsprechung von Mentalem und Film bei Münsterberg noch eine strukturelle, überzeitliche Tastsache, so wird sie bei den freudianischen Filmtheoretikern, Freuds Theorie einer stets mit sozialen Instanzen verhandelnden Psyche gemäß, kulturell und historisch. Wie die genannten Beispiele zeigen – und die Liste ließe sich verlängern –, entwickelt sie gerade als solche, d.h. als zugleich historische und strukturelle Analogie eine hohe Plastizität und eine starke Anziehungskraft, so dass sie als nicht kontroverses heuristisches Verfahren für die Analyse des Films in kulturellen Prozessen nachhaltig Verwendung finden kann.
Gerade der zitierte Beitrag von Scott Curtis zur letzten Nummer der Montage AV zeigt, dass sich das Feld dessen, was hier Gebrauchsfilm genannt wird, ausgehend von der filmtheoretischen Apparate-Analogie überaus produktiv erschließen lässt. Wenn wir aber in dieser zweiten Themennummer zum Gebrauchsfilm den Gegenstandsbereich erweitern und neben dem Wissenschaftsfilm und dem Film als Mess- und Versuchstechnik, die im ersten Heft den Hauptakzent setzten, nun auch der Schul- und Lehrfilm, der Industriefilm und weitere Formen wie der Gedenkstättenfilm zur Sprache bringen, dann geht dies auch mit einer Erweiterung des methodischen Horizonts einher, oder vielmehr mit der Erprobung weiterer filmwissenschaftlicher (Theorie-)Ansätze auf dem Feld des Gebrauchsfilms.
So stellt Eef Masson in ihrem Beitrag «Didaktik vs. Pädagogik. Ein kontextueller Ansatz für die Untersuchung von Unterrichtsfilmen» Semiotik und historische Pragmatik einander gegenüber und unterzieht Geneviève Jacquinots Image et pédagogique, den bislang wohl einzigen theoretischen Gesamtentwurf für eine visuelle Pädagogik, einer detaillierten Kritik, wobei sie am Beispiel des Schulfilms in den Niederlanden für einen kontextorientierten, pragmatischen Ansatz zur Analyse der Gebrauchsformen des Films plädiert. Die Filmhistorikerin Valérie Vignaux wiederum wählt in ihrem Beitrag «Eine Encyclopédie der Leinwand. Der institutionelle Diskurs des Kinos im Frankreich der Zwischenkriegszeit und die Filme von Jean Benoit–Lévy (1922–1939)» die Form der Werkbiographie, um die wissensgeschichtliche Dimension des Projektes einer Encyclopédie der Leinwand aufzuschließen, wie dieses in der Zwischenkriegszeit in Frankreich in prominenter Weise vom Filmpädagogen Jean Benoit–Lévy verfolgt wurde. Vignaux´ Beitrag erinnert nicht zuletzt daran, dass der Autorenbegriff in ähnlicher Weise zur methodischen Grundausstattung der französischen Filmwissenschaft zählt wie die Apparate-Analogie zu derjenigen der (nord-)amerikanischen. Frankreich hat auch den bislang wohl einzigen Regisseur von wissenschaftlichen Gebrauchsfilmen hervorgebracht, der zugleich zu den kanonischen Autoren des Kinos zählt: Den Meeresbiologen, Surrealisten und Filmemacher Jean Painlevé, der im Zentrum des nächsten Beitrags steht, Roxanes Hamérys Essay «Kino und Unterricht. Die fabelhafte Lektion in Unehrerbietigkeit des Jean Painlevé». Haméry befasst sicht nicht nur mit Filmen, sie stellt insbesondere auch Painlevés Distributionstechniken ins Zentrum und legt dar, welche Anstrengungen er unternahm, um seine poetischen Wissenschaftsfilme von den gebräuchlichen Schul- und Lehrfilmen seiner Zeit abzugrenzen. Wie dramatisch der Konflikt zwischen filmischer Form und institutioneller Rahmung sein kann, zeigt Anita Gertiser im folgenden Beitrag. «Domestizierung des bewegten Bildes. Vom dokumentarischen Film zum Lehrmedium » erzählt von einer eigentlichen Disziplinierung des Kinos durch die Institutionen der Pädagogik in den 1920er und 1930er Jahren und rekonstruiert an einer Reihe von Beispielen, wie Filme für die Verwendung im Schulzimmer großzügig umgeschnitten, ja in ihre Bestandteile zerlegt wurden. Geht das Filmdenken in Apparate-Analogien implizit davon aus, dass die technische Struktur des Mediums eine stabile Essenz darstellt, die in vielfältigen Affinitätsund Analogiebeziehungen zur Entfaltung kommt, dann schärft Gertisers Text nicht zuletzt den Blick dafür, wie sehr die Struktur des Mediums mitunter durch die institutionellen Rahmungen bestimmt wird. Das Verhältnis von Medientechnik und Gebrauchsform steht auch im Zentrum des Beitrags von Yvonne Zimmermann. In «Vom Lichtbild zum Film. Anmerkungen zur Entstehung des Industriefilms» zeigt sie anhand der Frühgeschichte des Industrieund Wirtschaftsfilms auf, dass dessen Gestaltungsstrategien nicht zuletzt auf zuvor schon etablierte Gebrauchsformen technischer Bilder wie den Lichtbildvortrag zurückzuführen sind. Die technische Innovation des Films schlägt demnach keineswegs unmittelbar auf die Gebrauchsformen technischer Bilder durch. Vielmehr zeigt sich an dem von Zimmermann untersuchten Material – durchaus in Entsprechung zu den Ergebnissen der neueren Wissenschaftsforschung –, dass Praktiken der Generierung und übertragung von Wissen in einem gewissen Maß technikresistent sind und die Medientechnik nur eine ihrer Determinanten darstellt. Auf das Zusammenspiel gesellschaftlicher Ikonographien und politischer Institutionen geht Pierre-Emmanuel Jaques in seinem Beitrag «Werben, zeigen oder verbergen? Zum Tourismusfilm in der Schweiz» ein. Anhand der Geschichte des Tourismusfilms vom frühen 20. Jahrhundert bis in die 1960er Jahre zeigt er unter anderem auf, dass zur Funktionalität von Gebrauchsfilmen auch die Konstruktion und Zirkulation nationaler Stereotypen in einem durchaus wirtschaftlichen Interesse gehört. Die Verbindung von ökonomischer Praxis und filmischer Darstellung steht auch im Zentrum von Urs Stähelis und Dirk Verdicchios Beitrag «Das Unsichtbare sichtbar machen: Hans Richters Die Börse als Barometer der Wirtschaftslage». Am Beispiel eines Films, der 1939 im Auftrag der Zürcher Börse entstand, untersuchen die Autoren Strategien der filmischen Repräsentation von Abläufen im Finanzmarkt. Mit einem diskurs- und motivanalytischen Ansatz zeigen sie auf, mit welchen Mitteln Richter die paradoxe Auftragslage bewältigt, die immateriellen kommunikativen Vorgänge der Börse im Medium des Films sichtbar zu machen. Deutlich wird dabei nicht zuletzt, wie stark der Wirtschaftsfilm auch unter den Bedingungen der Unsichtbarkeit wesentlicher Bestandteile der ökonomischen Praxis noch einer ästhetik der Produktion verpflichtet bleibt, die sich in ihren Grundzügen im 18. Jahrhundert herausbildet und die Darstellung von Herstellungsprozessen als konstante, sich bis heute fortschreibende Bildtradition der Moderne etabliert. An die Stelle der Erkundung von Affinitäten zwischen Apparaten und Kulturtechniken stellt Florian Hoof in seinem Beitrag <The One Best Way>. Bildgebende Verfahren der ökonomie und die Innovation der Managementtheorie nach 1860» die Untersuchung der Affinität von Wissensräumen. Anstatt – wie sonst gängig – die übernahme der chronophotographischen Verfahren der Physiologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts durch die Industrie nach 1910 mit den Kategorien der Kunstgeschichte als Form der Beeinflussung eines Bildtechnikers (Gilbreth) durch einen anderen (Marey) zu interpretieren, verweist Hoof auf eine epistemische Homologie von Labor und Fabrikraum: Beides sind kontrollierte Umgebungen, in denen Bewegungsabläufe zum Zweck der Produktion und übertragung von Wissen in diskrete Elemente zerlegt und untersucht werden. Erst diese Homologie ermöglicht den Einsatz wissenschaftlicher Verfahren der Bildgebung in industriellen Organisationen. Im Sinne der historischen Epistemologie Georges Canguilhems argumentiert Hoof, dass der Arbeitsstudienfilm nicht einfach nur eine nachgeordnete Verwertung wissenschaftlicher Verfahren durch die Industrie darstellt, sondern als Antwort auf eine spezifische historische Krise des managementtheoretischen Wissens verstanden werden sollte und dieses Wissen in seiner Struktur auch nachhaltig verändert. Dass zu den Medien des managmenttheoretischen Wissens aber nicht nur der Arbeitsstudienfilm oder der Schulungsfilm gehört, zeigt Vinzenz Hediger in seinem Beitrag «Von Hollywood lernen heißt führen lernen. Der Spielfilm als Schulfilm in der Management- Ausbildung». Ausgehend von der Beobachtung, dass in der didaktischen Literatur zur Managementausbildung vermehrt der Einsatz von Spielfilmen für Ausbildungszwecke empfohlen wird, geht er der Frage nach, welche Implikationen diese Form der Zweitverwertung kommerzieller Filme für eine Theorie der visuellen Pädagogik haben kann. Den Abschluss der Nummer bildet eine Studie von Eva Hohenberger zur Geschichte der Besucher-Filme der Gedenkstätte von Buchenwald, die das Feld der Gebrauchsfilmforschung mit der aktuellen Debatte um Gedächtnis und Erinnerungskultur verknüpft. Während ein Autor wie Pierre Nora in seinen Arbeiten über Erinnerungsorte die Medien überhaupt ganz ausblendet, behandeln Jan und Aleida Assmann den Film in ihrer Gedächtnistheorie kritisch unter dem Aspekt einer «maschinellen Resensualisierung », ohne auf die Gedächtnisleistungen des Mediums im Einzelnen einzugehen. In dem Hohenberger in ihrem Text Schicht um Schicht der Bildpraktiken des Gedenkens abträgt, leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Schließung der Lücke, die von den Theoretikern des kulturellen Gedächtnisses damit gelassen wird.
In exemplarischer Weise verdeutlich dieser letzte Beitrag noch einmal, welche vielfältigen methodischen Herausforderungen sich für die Filmwissenschaft aus der Auseinandersetzung mit dem Gebrauchsfilm ergeben. Er zeigt er aber auch, wie produktiv filmwissenschaftliche Ansätze und gerade die Beschäftigung mit dem Gebrauchsfilm für die stetig sich vertiefende Auseinandersetzung mit Bildmedien in angrenzenden Disziplinen sein können.
Ein besonderer Dank gilt Christine Noll Brinckmann für ihr präzises Lektorat der in dieser Nummer versammelten Manuskripte. Ein Korrigendum ist zum Beitrag «Die Ethologie des wissenschaftlichen Cineasten: Karl von Frisch, Konrad Lorenz und das Verhalten der Tiere im Film» von Tania Munz anzubringen, der in Montage AV 14/2 erschien. Es fehlte die Autorinnen-Biografie; diese wird in der vorliegenden Ausgabe nachgetragen. Für das Versäumnis entschuldigen wir uns bei der Autorin und den Lesern.
Vinzenz Hediger