Editorial:
Audiovisuelle Diskurse
Christoph A. Büttner
Die Politik der romantischen Liebe in
IT HAPPENED ONE NIGHT
Zur filmwissenschaftlichen Produktivität des
Laclau-Mouffe’schen Diskursdenkens
Guido Kirsten
Zur Analyse des Armutsdiskurses in SHOES
Britta Hartmann
Dokumentarfilmische Diskurse
Eine Skizze
Andrea Seier
Versionen des ‹eigenen› Lebens
Life Genres in AND-EK GHES …
ARTIKELREIHE «FEMINISTISCHE PERSPEKTIVEN»
Elena Meilicke
Mutterschaft und Resilienz
Inszenierungen von Mompreneurship in Mommy Blogs
und Doku-Serien
VORSCHAU: THEMENHEFT MODE
Interview
Wo viele Fäden zusammenlaufen
Filmkostümbildpraxis: Im Fundus der Theaterkunst GmbH
Nikola Fölster im Gespräch mit Bianka-Isabell Scharmann
IN MEMORIAM
Brian Winston
von Jane M. Gaines
Ralf Schenk
von Jörg Schweinitz
Jean Louis Schefer
von Matthias Wittmann
Jean-Louis Comolli
von Daniel Fairfax
Jean-Louis Comolli
Ein Körper zu viel [1977]
Editorial
Audiovisuelle Diskurse
Die ersten Sätze des Dialogs sind zu hören, während der Vorspann noch läuft und in weißer Schrift auf schwarzem Hintergrund die Namen der an der Produktion Beteiligten zu sehen sind. Welche Berufe er denn bisher ausgeführt habe, wird einer der beiden an dem Gespräch Beteiligten gefragt – offenbar handelt es sich um eine Bewerbungssituation. Hauptsächlich habe er auf dem Bau gearbeitet, antwortet der Gefragte, Baugruben habe er ausgehoben, Grundrisse abgesteckt, betoniert, Dächer gedeckt, Bodenbeläge angebracht, gepflastert, Klempner- und Tischlerarbeiten verrichtet. Sogar Gräber habe er mal ausgehoben, eigentlich alles. Ob er mal Arbeitslosengeld erhalten habe, lautet eine der nächsten Fragen. Nein, das habe er nie gewollt, er habe seinen Stolz, eher würde er verhungern. Allerdings habe ihn in seinem letzten Job in der Landschaftspflege gestört, dass er sich auf seine Kollegen nicht verlassen konnte; viele seien zu faul gewesen. Daher wolle er jetzt sein eigener Boss sein.
Noch bevor er zu sehen ist und bevor wir mehr von ihm erfahren, wird Ricky (Kris Hitchen), der Protagonist von Sorry We Missed You (Ken Loach, UK/F/B 2019), als fleißiger Arbeiter eingeführt, der nach größerer Selbstständigkeit strebt. Als der Vorspann endet und die erste Einstellung zu sehen ist, wird uns ein Anblick seines Gesichts zunächst vorenthalten. Zu sehen ist er von schräg hinten, während sich die Aufmerksamkeit auf Maloney (Ross Brewster) verlagert, der den (fiktiven) Paketlieferdienst PDF vertritt. Breite Schultern, kurzgeschorene Haare, bulliges Gesicht – schon auf den ersten Blick wirkt Maloney nicht unbedingt beruhigend oder vertraueneinflößend, was noch durch die Mise en Scène des grauen Büros (insbesondere die Gitterstäbe vor den Fenstern) unterstrichen wird (Abb. 1). Ricky gegenüber, der bei dem Lieferdienst anheuern will, macht er klare Ansagen:
Let’s just get a few things straight at the start, though, shall we? You don’t get hired here, you come on board. We like to call it onboarding. You don’t work for us. You work with us. You don’t drive for us. You perform services. There’s no employment contracts. There’s no performance targets. You meet delivery standards. There’s no wages, but fees. Is that clear?
In dieser Aneinanderreihung arbeitsweltlicher Stichworte suggeriert der Film bereits in den ersten Minuten, dass er sich nicht darauf beschränken wird, eine Fantasiewelt zu entwerfen. Vielmehr verweist er hier auf zentrale Charakteristika einer neuartigen Ökonomie, in der die Lohnarbeitenden keinen Lohn bekommen und die Angestellten nicht angestellt werden, auf ein sich ausbreitendes gesellschaftliches Phänomen, das unter der Bezeichnung «Gig Economy» für mediales Aufsehen und sozialwissenschaftliche Problematisierung gesorgt hat (Friedman 2014; Crouch 2019). In diesem Sinn ist Sorry We Missed You auch von der internationalen Filmkritik betrachtet worden. Obwohl der Begriff im Film selbst nicht genannt wird, fehlt der Bezug auf die Gig Economy in kaum einer Besprechung (vgl. Webb 2019; MacDonald 2019; Jenkins 2020; Assheuer 2020; Rhensius 2020). Darüber hinaus wird der Film von den meisten Rezensent:innen nicht als neutrale Schilderung dieser neuen Arbeitsverhältnisse verstanden, sondern als Plädoyer oder als Anklage. So schrieb der Filmkritiker des Guardian, Peter Bradshaw, nach der Premiere in Cannes im Mai 2019:
Director Ken Loach and screenwriter Paul Laverty have come storming back to Cannes with another tactlessly passionate bulletin from the heart of modern Britain, the land of zero-hours vassalage and service-economy serfdom – a film in the tradition of Loach’s previous work and reaching back to Vittorio De Sica’s Bicycle Thieves. It’s fierce, open and angry, unironised and unadorned, about a vital contemporary issue whose implications you somehow don’t hear on the news. (Bradshaw 2019)
Das Wort «bulletin» ist hier ein deutliches Symptom dafür, dass der Film nicht einfach als fiktionale Erzählung aufgefasst wird, sondern eben als Bericht, Abhandlung oder Mitteilung. Auch stellt Bradshaw hier Bezüge her zwischen der Diegese und dem, was Étienne Souriau (2020 [1951], 56 f.) als «afilmische Wirklichkeit» bezeichnet, etwa den sogenannten Zero-Hour-Arbeitsverträgen und der Dienstleistungsökonomie im zeitgenössischen Großbritannien. Und die von ihm benutzten Adjektive – «scharf», «offen», «wütend», «unironisch» – charakterisieren die Rhetorik dieser filmischen Abhandlung.
Indem die Rezensionen Sorry We Missed You auf diese Weise Bezüge zu afilmischen Phänomenen, Institutionen und Kategorien zuschreiben und diese Bezüge durch argumentative Muster, Überzeugungstrategien und appellative Stoßrichtungen hinterlegt sehen, behandeln sie den Film nicht als selbstgenügsames textuelles Artefakt. Vielmehr wird hier eine Perspektive erkennbar, die ihn als eigenen Diskursbeitrag versteht, der sich erstens in laufende Diskurse einschreibt und vor deren Hintergrund Sinn entfaltet, der zweitens aufgrund seiner eigenen Binnenstruktur gewisse Haltungen und Schlüsse hinsichtlich des Verhandelten nahelegt und der drittens mit den spezifischen Mitteln audiovisueller Fiktion operiert. Darüber hinaus wird Sorry We Missed You in einigen Filmkritiken auch deshalb als explizit diskursiv gesetzt, weil die an ihm beteiligten Personen, zuvorderst Regisseur Loach und Drehbuchautor Laverty, für ihre sozialkritischen Diskursbeiträge bekannt seien (vgl. Rhensius 2020; Stosch 2020). Diese Sichtweise führt dazu, dass sich die angenommene Quelle des appellativen Charakters verschiebt: vom Film auf die Produktionsumstände und die daran beteiligten Personen.
An der Rezeption von Sorry We Missed You lassen sich also verschiedene Dimensionen des Diskursiven herausarbeiten, deren Zusammenspiel sich eine filmische Diskursanalyse zu widmen hat: die externen Bezüge des Films und ihre semantische Struktur, seine interne (Argumentations-)Struktur, die verwendeten Mittel oder Verfahren (und ihre möglichen semiotischen, rhetorischen, affektiven oder kognitiven Implikationen) sowie sein konkretes Produktions- und Rezeptionsumfeld. Solche Aspekte audiovisueller Diskurse und ihrer Analyse betreffen nicht nur vermeintlich ‹sozial-realistische› Werke wie die von Loach, sondern ebenso andere Genres (Western, Science-Fiction, Melodrama, Horror, Komödie etc.) und andere Gattungen und Formate (Dokumentar- und Essayfilm, Fernsehreportage, TV- und Web-Serie etc.).
Begrifflich verspricht die Rede vom Diskurs dabei nicht nur, die benannten Dimensionen aus der Perspektive des Filmischen in ein theoretisches Modell zu integrieren, das ihre Wechselverhältnisse analytisch zu fassen erlaubt; die Diskursperspektive öffnet das Filmische vielmehr dezidiert für intermediale, sozial- und machttheoretisch informierte Fragestellungen und damit für interdisziplinäre Aushandlungen. Sie hilft dabei, bestimmte Problematiken in den Blick zu rücken, die in vielen Filmlektüren (nicht zuletzt den eingangs angesprochenen Rezensionen) als immer schon beantwortet gesetzt sind: Wie lässt sich beispielsweise ein Zusammenhang zwischen den zahlreichen, insbesondere filmischen Inkarnationen eines sozialen Phänomens (beispielsweise flexibilisierte und prekäre Arbeitsbedingungen) denken? Welche Arten von narrativen und ästhetischen Operationen nehmen Filme vor, wenn sie solche Phänomene in ihr Zeichengeflecht integrieren? Welche sozialen Phänomene lassen sich identifizieren und woran lässt sich eine solche Identifikation festmachen? Gegenüber anderen textanalytisch-hermeneutischen Verfahren und Begriffen bietet der Diskursbegriff den Vorteil, diese Fragen mitzudenken.
Impliziert beispielsweise das Konzept der Repräsentation nicht selten eine hierarchische Wirklichkeitsstruktur von Original und Abbild, das die filmische Lektüre zu einem (Wieder-)Erkennen mimetisch abgebildeter Tatsachen reduziert (Werber 2010, 270–278), rückt der Diskursbegriff den Lektüreprozess in einen reflexiven Fokus: Einen Film als Diskurs oder als Teil von Diskursen zu verstehen, stellt schließlich bestimmte Verknüpfungen überhaupt erst her und macht Verbindungslinien allererst sichtbar. Semiopragmatisch kann mithin von einem «diskursiven Lektüremodus» gesprochen werden (Odin 2019 [2011], 143). Zu unterscheiden wären dabei in unterschiedlichem Maße reflektierte und theoretisch informierte Formen solcher Lektüren. Neben dezidierten Diskursanalysen, die gezielt den diskursiven Feldern und Bezügen nachgehen (Geimer 2021),1 stellen diskursive Lektüren einen durchaus alltäglichen Zugang dar, der beispielsweise vielen Filmrezensionen zugrunde liegt.
Der Fokus auf diesen Lektüremodus wirft dann wiederum eigene Fragen auf: Welche Operationen kennzeichnen eine diskursive Lektüre und in welchem Verhältnis stehen sie zu den Verfahren anderer Modi? Durch welche Strukturen oder Verfahren regen Filme eine solche Lektüre an, erschweren oder blockieren sie tendenziell? Und wie ist das Verhältnis von Diskurs und diskursiver Lektüre zu denken? Um auf das Beispiel von Sorry We Missed You zurückzukommen: Offenbar haben alle der angesprochenen Rezensent:innen eine Geschichte konstruiert, die im Rahmen einer (als realistisch angenommenen) Diegese spielt. Sie haben also diegetisiert und narrativiert und von diesen Operationen ausgehend den Film als Diskurs verstanden – nämlich als Äußerung zu einem bestimmten Thema oder mehreren Themen mit einer gewissen rhetorischen Färbung (Hartmann 2007).
Mit dem vorliegenden Heft wollen wir einige der benannten Fragen diskutieren. Es geht uns dabei nicht um ihre abschließende Klärung oder den Entwurf einer ausführlichen Diskurstheorie des Filmischen, sondern vielmehr um eine Exploration der analytischen und theoretischen Produktivität, die ein Diskursdenken für audiovisuelle Medien entfalten kann. Die Breite dieser Produktivität verdankt sich nicht zuletzt einer komplexen Geschichte des Diskursbegriffs (Schalk 1997) und den vielfältigen Anschlüssen, die der Begriff an die reiche Theoriebildung verschiedener Disziplinen ermöglicht (Mills 2007; Kämper/Warnke 2015). Aus diesem Grund verzichten wir auch auf den Versuch einer vereinheitlichenden Begriffsdefinition, wollen aber dennoch einige Eckpunkte verschiedener Diskurstheorien benennen, um mögliche Einsätze audiovisueller Diskursanalysen aufzuzeigen und die vier Beiträge des Heftschwerpunktes in diesem Feld zu situieren. Wie sich zeigt, hat der Begriff (als «discours») auch in der filmwissenschaftlichen Theoriebildung eine längere Tradition.
Was sich als ‹französischer Strang› dieser Tradition bezeichnen lassen könnte, hat sich aus einer alltagsprachlichen Verwendungsweise des Wortes ausdifferenziert. Im Französischen heißt discours zunächst einfach «Rede» im Sinne beispielsweise einer festlichen oder politischen Ansprache. Der Sprachwissenschaftler Émile Benveniste (1971 [1959]) hat daraus einen linguistischen Begriff abgeleitet, indem er ihn dem Begriff der histoire gegenüberstellte. Seine Kategorien gründen auf der Beobachtung, dass es Texte gibt, in denen bestimmte Tempi und Konjugationen nicht vorkommen, die in anderen prominent vertreten sind. Gegen ein rein grammatisches Verständnis solcher Differenzen postuliert Benveniste die Existenz zweier sprachlicher «Systeme». Die Textsorte histoire sei durch die Erzählung vergangener Ereignisse und durch das Fehlen jeglicher autobiografischer Sprachmerkmale definiert: Der Historiker sage niemals «ich» und «du», ebensowenig «jetzt». Dagegen sei discours jede Äußerung, bei der ein Sprecher (oder Autor) und ein Zuhörer (oder Adressat) vorausgesetzt seien und bei der der Sprecher den Adressaten in der einen oder anderen Weise beeinflussen wolle:
Diskurs ist im weitesten Sinne zu verstehen: Gemeint ist jede Äußerung, die einen Sprecher und einen Zuhörer voraussetzt sowie bei Ersterem die Absicht, Letzteren irgendwie zu beeinflussen. Zunächst wäre hier die Gesamtheit der verschiedenen mündlichen Reden jeglicher Art und jeglichen Niveaus zu nennen, von der trivialen Konversation bis hin zur elaboriertesten Festrede. Aber zu denken ist auch an die Masse der Schriften, die mündliche Reden reproduzieren oder deren Ausdrucksweise und Ziele übernehmen: Korrespondenz, Denkschriften, Theaterstücke, didaktische Arbeiten, kurz gesagt alle Textgenres, bei denen sich jemand an jemand anders wendet, sich selbst als Sprecher betrachtet und das, was er sagt, in der Kategorie der Person organisiert. (Benveniste, 1966[1959], 241 f.; Übers. G. K.)
Somit ist Benvenistes Diskurs-Begriff zum einen durch linguistische Merkmale, zum anderen durch eine persuasive Intention bestimmt.
Aufgegriffen wurde Benvenistes Unterscheidung prominent in der strukturalistischen Narratologie unter anderem durch Tzvetan Todorov (1966) und Gérard Genette (1966; 1998 [1972/1983]). In die Filmsemiologie hat sie Christian Metz 1975 mit seinem kurzen Essay «Geschichte/Diskurs. Anmerkungen zu zwei Arten von Voyeurismus» eingeführt. Darin bezeichnet er als «Geschichte» (histoire) ein filmisches Regime der «Transparenz», das mit klassischen Erzählweisen assoziiert wird. Auch solch klassische Filme blieben jedoch insofern «Diskurs», als sie auf ihren Artefaktcharakter hin befragt werden könnten (Metz 2000 [1975]). Allerdings hatte Metz schon in einem früheren Text bemerkt (1972 [1966/1968], 47 Fn 5), dass in Benvenistes Schriften tatsächlich zwei discours-Begriffe vorkommen: ein engerer, der auf die beschriebene Weise vom histoire-Begriff abgegrenzt ist, und ein weiter, der alle Äußerungen umfasst. In dieser weiteren Fassung rückt der discours-Begriff an die Stelle dessen, wo bei Saussure von parole die Rede war (Saussure 2001 [1916], 13 ff.; MacCabe 1978, 30). Er bezeichnet sämtliche sprachlichen Äußerungen (also auch solche der Textsorte histoire).
Der wohl einflussreichste Diskurstheoretiker Michel Foucault hat sich in seinen Arbeiten am weiteren Diskursbegriff Benvenistes orientiert. Er perspektiviert Diskurse vor allem als historische Systeme von Aussagen zu einem bestimmten Themenkomplex, welche die Gegenstände, von denen darin die Rede ist, als solche konstituieren. Die konkreten Äußerungsinstanzen sind für Foucault dabei nur insoweit von Interesse, als sie historischen Institutionen zugerechnet werden können. Im Vordergrund steht für ihn eine historisch-kritische Dimension, da diskursive Formationen für die Entstehung von Kategorien (etwa ‹Wahnsinn› oder ‹Homosexualität›) verantwortlich sind, die eine gesellschaftliche Wirkmacht entfalten können (Foucault 1974 [1966]; 1981 [1969]). Diskurse bestimmen allerdings nicht einfach autopoetisch, was und wie historisch jeweils wahrgenommen und artikuliert werden kann, sie sind selbst als gesellschaftliche Praxen zu verstehen, die eigenen Strukturierungsweisen und Verfahrensregeln, aber auch eigenen Arbitraritäten unterliegen (Foucault 2017 [1972]).
Foucaults Diskursbegriff – oder vielmehr: dessen vielfältige Interpretation – geriet in den Sozialwissenschaften sowie den Literatur- und Kulturwissenschaften zum bis heute sicherlich prominentesten Anknüpfungspunkt. Allerdings finden sich dort zahlreiche Versuche, den bei Foucault im Abstrakten und Theoretischen verbleibenden Begriff in analytisch handhabbare Begriffe und Methoden zu überführen.
Im deutschsprachigen Raum besonders einflussreich war dahingehend die von Jürgen Link und anderen vorgelegte Interdiskurstheorie und -analyse. Link hat vor allem die kulturelle Dissemination spezifischer Wissensbestände, Anschauungs- und Äußerungsweisen im Blick. Er unterscheidet zwischen Diskursen (später Spezialdiskursen) im engeren Sinne und kulturellen Interdiskursivitäten bzw. Interdiskursen, die Wissensbestände zwischen verschiedenen Diskursen zirkulieren ließen (Link 1983). Aufbauend auf einer «spontanen Interdiskursivität» verfestigten sich kulturell eigens «institutionalisierte ‹Interdiskurse›», die eine kulturelle Integrationsfunktion übernähmen (Link/Link-Heer 1990, 93). Filme operierten demnach (parallel zur Literaturproduktion) selbst interdiskursiv oder stellten gar einen eigenen Interdiskurs dar (vgl. Parr 2014; Biebl 2013).
Mit seinem Entwurf einer Kritischen Diskursanalyse schließt Siegfried Jäger explizit an Foucault und Link an und versucht deren Überlegungen in Richtung einer methodischen Operabilität zu führen. Hierzu fasst er Diskurse als «Flüsse bzw. Abfolgen von oft auch raumübergreifenden sozialen Wissensvorräten durch die Zeit», die es dann synchron über verschiedene Diskursebenen und diachron nachzuverfolgen gelte (Jäger 2015, 78). Zu diesem Zweck führt Jäger zahlreiche analytische Begriffe ein, mit deren Hilfe er Themen öffentlicher Äußerungen in Printpublikationen, Fernsehen, Film usw. einer kulturwissenschaftlichen Analyse zuführt (Jäger 2011, 113–118). Er versteht seinen Ansatz dabei als kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Verteilungsungleichheiten kommunikativer und gesellschaftlicher Macht (Jäger 2008). Diesen Impuls teilt Jäger mit einer ganzen Reihe weiterer Forschungsansätze, die sich unter dem Titel der critical discourse analysis (CDA) versammeln. Zu nennen wären hier beispielsweise die einflussreichen Arbeiten von Teun A. van Dijk (u. a. 1995, 2015), Norman Fairclough (u. a. 1992, 1995) sowie gegebenenfalls Gunter Kress und Theo van Leeuwen (2001).2 Diese Ansätze vereine, so van Dijk programmatisch, keine gemeinsame Methodik, sondern ein gemeinsamer Impuls der Machtkritik: «CDA is discourse study with an attitude» (van Dijk 2015, 466). Angenommen werden hier gesellschaftliche Gruppen, die in einem Machtkampf über Äußerungsmöglichkeiten und -modalitäten stünden und deren Strategien und Sprachspiele es kritisch zu untersuchen gelte, weshalb neben einer inhaltlichen und formalen Analyse kommunikativer Äußerungen auch deren soziale Rahmenbedingungen zu untersuchen seien (ibid., 470 f.).
Gegenüber diesen Ansätzen der Diskursforschung, denen es vor allem um den Zusammenhang zwischen dem Auftauchen kommunikativer Äußerungen und der diskursiven Strukturierung eines sie hervorbringenden sozialen Felds geht, argumentieren poststrukturalistisch ausgerichtete Diskurstheorien wieder stärker semiologisch (Laclau 2007). Sie verwerfen dabei allerdings die Position einer Enunziationsinstanz (das «Ich» des discours) als theoretisches Grundmodell des Diskurses. In den Fokus rücken nicht länger die Persuasionsbemühungen einer Rhetor:in, sondern die emergenten Strukturen und Dynamiken einer Semiosphäre, also einer ineinander verschlungenen Totalität (sozialer) Zeichenprozesse (Lotman 1990 [1984]). Am radikalsten haben sicherlich Ernesto Laclau und Chantal Mouffe diesen Ansatz verfolgt, wenn sie das Diskursive – in expliziter Abgrenzung zu Foucault – so weit ausdehnen, dass sie den Unterschied zu einem Nicht-Diskursiven gänzlich verwerfen, der sich bei Foucault zumindest noch in Andeutungen zeigt.3 Laclau und Mouffe setzen das Diskursive hingegen mit dem Sozialen gleich und entwerfen es radikalkonstruktivistisch als Seinsvoraussetzung jeglicher Objektivität (Laclau/Mouffe 2020 [1985]; 1990 [1987]). Es verschwindet damit zugleich der feste Grund, von dem aus die CDA ihr herrschafts- und ideologiekritisches Projekt verfolgen konnte, wenn Ideologie als Möglichkeitsbedingung für das Auftauchen jeglichen Diskurses und jeglicher Subjektposition gesetzt wird (Laclau 1990).
Wie der Diskursbegriff von Laclau und Mouffe, der selbst eher abstrakt sozialtheoretisch ausgerichtet ist, dennoch eine Diskussion audiovisueller Medien informieren kann, zeigt der Beitrag von Christoph A. Büttner in diesem Heft. Demnach lässt sich mit Hilfe eines Laclau-Mouff’schen Diskursdenkens nicht nur die Verflechtung von filmischen und nicht-filmischen Diskursen, von Produktion, textuellem Artefakt und Rezeption erfassen, sie hilft überdies dabei, eine politische Haltung von Filmen, Serien und anderen audiovisuellen Produktionen herauszuarbeiten. Wie eine solche politisch-diskursive Lektüre verfahren kann, demonstriert Büttner an einer Rekonstruktion der Diskurse romantischer Liebe im Hollywood-Film It Happened One Night (Frank Capra, USA 1934) und in dessen vielfältiger Rezeption.
Filmische Lektüreverfahren stehen auch im Zentrum des Beitrags von Guido Kirsten. Am Beispiel des Armutsdiskurses in Shoes (Lois Weber, USA 1916) stellt er Überlegungen zu den grundlegenden Operationen diskursiver Lektüren an. Dazu zählt er eine Privilegierung afilmischer Referenzialität, die Übersetzung narrativer Strukturen in die Gestalt einer Quasi-Argumentation und ein Affiziertwerden qua filmischer Rhetorik. Diese Lektüreoperationen sieht der Autor im filmischen Text von Shoes angelegt, dessen intertextuelle Bezüge er ebenso nachzeichnet wie die Binnenstruktur des filmischen Arguments. Einer diskursiven Lektüre zufolge läuft dieses Argument in Shoes, das rhetorisch mit Empathieangeboten und Affektbildern operiert, insbesondere auf die Demonstration hinaus, dass auch tugendhafte junge Frauen aufgrund materieller Not und drängender Armut in die Gelegenheitsprostitution abrutschen können. Zu bedenken seien dabei, so Kirsten, jedoch auch die Grenzen, blinden Flecken und problematischen Implikationen dieses bildungsbürgerlich reformistischen Diskurses.
Anhand der Betrachtung unterschiedlich gelagerter Dokumentarfilme legt der Aufsatz von Britta Hartmann dar, auf welch unterschiedliche Weisen Dokumentarfilme in soziale Diskurse eingebettet sind und eigene diskursive Formen entwickeln, um sich mit der Realität auseinanderzusetzen. Von konkreteren Formen der Repräsentation von Wirklichkeit schreiten die Betrachtungen fort zur Frage der Verhandlung abstrakter sozialer Sachverhalte und Prozesse, die nicht ohne Weiteres abgebildet werden können.
In Andrea Seiers Beitrag zum Themenschwerpunkt steht der Diskursbegriff auf den ersten Blick weniger im Vordergrund. Mit Hilfe von Lauren Berlants Konzept der Life Genres argumentiert sie dafür, dass affektives Alltagserleben und Intimität nicht einfach Bereiche individueller Persönlichkeit sind, sondern in komplexen Wechselverhältnissen mit massenmedialen Konfigurationen oder Genres affektiver Gemeinschaftlichkeit stehen. Gerade mit diesem Argument jedoch verbindet Seier Diskurs- und Affekttheorie wieder miteinander. Sie öffnet die Diskursperspektive gegenüber Fragen geteilter Affektivität und sensibilisiert die Affekttheorie für Momente diskursiver Konstruktion und Dispersion. Am Beispiel des Dokumentarfilms And-Ek Ghes … (Philip Scheffner & Colorado Velcu, D 2016) kann sie derartige wechselseitige Abhängigkeiten lebensweltlicher und filmischer Genres nachzeichnen.
In unserer Artikelreihe «Feministische Perspektiven» untersucht Elena Meilicke die ‹Mompreneur› als symptomatische mediale Figur in Blogs, Instagram-Accounts und aktuellen Serien. Das Bild von der Mutter als selbstbestimmter Unternehmerin, so Meilicke, geht einher mit dem Versprechen einer flexiblen und selbstbestimmten Arbeit, die sich mit den Anforderungen von Kinderbetreuung und Care-Arbeit vereinbaren lässt. «Mal eben ein eigenes Unternehmen gründen, während das Kind sein Mittagsschläfchen macht» – so verlockend das klingt, so problematisch wird diese Modellierung. Denn sie trivialisiert nicht nur die Last von Care-Arbeit sowie die Risiken der Selbstständigkeit, sondern schreibt auch die tradierte Kopplung von Frauen und häuslicher Ebene fort und privatisiert in neoliberaler Manier Fragen der Vereinbarkeit, die eigentlich gesamtgesellschaftlich und politisch gelöst werden müssten.
Wenn (überhaupt) von Filmkostümen die Rede ist, werden sie zumeist mit spektakulären Originalentwürfen für einzelne Filme assoziiert. Wenig ist hingegen darüber bekannt, wie Praktiken des Ausleihens und Wiederverwertens bestehender Kostümsammlungen in Film- und Serienproduktionen zum Einsatz kommen. Einblicke in die Arbeitsprozesse mit vorfindbaren Kostümen vermittelt das Gespräch, das Bianka-Isabell Scharmann mit Nikola Fölster von der Theaterkunst GmbH geführt hat, dem deutschlandweit größten Kostümfundus. Das Interview gibt zugleich einen Ausblick auf das Schwerpunktthema der nächsten Ausgabe der Montage AV: Mode.
Bedauerlicherweise sind im vergangenen halben Jahr einige bedeutende Filmwissenschaftler und -theoretiker verstorben, denen wir in unserer Rubrik «In Memoriam» gedenken. Jane M. Gaines erinnert an das Wirken des wichtigen Dokumentarfilmforschers Brian Winston; Jörg Schweinitz ruft die großen Verdienste von Ralf Schenk um die Bewahrung und Erforschung des DDR-Filmerbes in Erinnerung; Matthias Wittmann zeichnet die eigenwillige Filmphilosophie Jean Louis Schefers nach; und Daniel Fairfax gedenkt dem vielfältigen Schaffen des ehemaligen Chefredakteurs der Cahiers du cinéma, Filmtheoretikers und Regisseurs Jean-Louis Comolli. Von Comolli selbst veröffentlichen wir zudem den Artikel «Ein Körper zu viel», in dem er sich anhand von La Marseillaise (Jean Renoir, F 1938) Gedanken über die Transformation des Schauspielerkörpers macht, der eine bekannte historische Persönlichkeit darstellt (Pierre Renoir als Louis XVI). Dieser bedeutende Beitrag zur Theorie filmischer Fiktion weist damit zum Ende dieser Ausgabe noch einmal Anknüpfungspunkte an Argumente des Heftschwerpunkts auf. Er liegt hier erstmals in deutscher Übersetzung vor.
Christoph A. Büttner (Gastherausgeber)
und Guido Kirsten (für die Redaktion)
1 Vgl. für einen solchen Versuch etwa Wulff 2001, Büttner 2022 oder in weniger filmwissenschaftlicher Perspektive die Arbeiten von Wiedemann (2018; 2019).
2 Vgl. insbesondere die kenntnisreiche Übersicht von Martin Reisigl (2009, 53), der
argumentiert, dass der Ansatz von Kress und van Leeuwen «von allen Spielarten der
Kritischen Diskursanalyse am wenigsten pronociert [sic] als kritischer Zugang in Erscheinung
tritt».
3 So spricht Foucault in der Archäologie des Wissens beispielsweise noch von «Beziehungen,
die man ‹primäre› nennen könnte und die, unabhängig von jedem Diskurs oder jedem
Diskursgegenstand, zwischen Institutionen, Techniken, Gesellschaftsformen usw.
beschrieben werden können» (1981 [1969], 69). Klaus-Michael Bogdal (2006) bemerkt
jedoch, dass sich im Theoriewerk Foucaults durchaus Strömungen finden lassen, die in
Richtung eines generellen diskursiven Aprioris oder einer ubiquitären Diskursivität
weisen.
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