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30 / 02 / 2021 Historische Rezeption

Historische Rezeption

Editorial:
Historische Rezeption

Magdalena Saryusz-Wolska
«Wo bleibt die Filmzensur?»
Beschwerdebriefe des westberliner Kinopublikums in den 1950er-Jahren

Andrzej Dębski
Welche Filme gefielen den Breslauern in der Saison 1926/27 am meisten und warum?

John Sedgwick
Filmgeschichte rekonstruieren
Ein Bottom-up-Ansatz

Daniel Wiegand
«Eine Entdeckungsfahrt in die Welt der Geräusche»
Zur historischen Rezeption des frühen Tonfilms
Die Nacht gehört uns

Christine N. Brinckmann
Fundsache: Hans Richters Erinnerung an die Rezeption des Films Panzerkreuzer Potemkin im Berliner Kino Alhambra

Rasmus Greiner
Hitlerjunge Quex revisited
NS-Propaganda zwischen immersiver Filmerfahrung und kritischer Mise en histoire

Margrit Tröhler
Das Schweigen der Frauen brechen
Zur Beredsamkeit historischer Vorführ- und Rezeptionssituationen – eine Fallstudie

Margrit Tröhler im Gespräch mit Gertrud Pinkus
Zur transnationalen Vorführpraxis und Rezeption von Il valore della donna

Christof Decker
Designing for Impact
Zur Rezeptionsforschung des Dokumentarfilms

ARTIKELREIHE «DISPOSITIVE»

Frank Kessler
Wissenschaftliche «Zappelbilder»
Zur historischen Pragmatik eines Dispositivs

FARBE IM FILM

Evelyn Echle im Gespräch mit Nicole Allemann
Ästhetik der Kolorierung bei digitalen Colour-Grading-Prozessen

Susanne Marschall
ColourReflections
Eine Studie zur Farbe im Kino am Beispiel von Bong Jong-hos Parasite

IN MEMORIAM

John Fiske
von Eggo Müller

Editorial

Auf dem Umschlag dieses Heftes sehen wir, wie Jean-Paul Belmondo in A bout de souffle (Ausser Atem, Jean-Luc Godard, F 1960) Michel Poiccard spielt, der ein Bild von Humphrey Bogart anschaut, das im Schaukasten vor einem Kino in Paris hängt. Vom Bild her könnte es gut sein, dass er gerade überlegt, ob er ins Kino gehen will, ob der Film ihm gefallen könnte – eine typische Situation für das damalige Kinoerlebnis. Filmwerbung und -marketing versprechen Attraktionen, die zum Kinobesuch bewegen sollen, und dann entscheidet sich das Publikum, was es anschaut. Für Michel ist das Foto des Stars aber eher aus anderen Gründen wichtig, denn nach dem ‹Blickwechsel› mit Bogart posiert er mit Zigarette zwischen den Lippen und streicht in seiner typischen Geste mit dem Daumen über die Lippen – er will sich wohl an den Rollen von Bogart und an dessen ‹Coolness› modellieren. Auch das ist eine weit verbreitete Form der Filmrezeption wie der Interaktion mit Filmen und Starimages, die für Lebensstile, Persönlichkeitsmerkmale, Werte und Gefühle stehen. Heute ist das Bild aber auf mehrfache Weise historisch. Es konnte schon im Jahre 1960, als Ausser Atem in die Kinos kam, als Hommage an Bogart gesehen werden, der 1957 gestorben war. Der Bogart-Film, der hier beworben wird, ist The Harder They Fall (Schmutziger Lorbeer, Mark Robson, USA 1956), sein letzter. Bogart war schon lange vorher ein Star mit festem Image, Belmondo – 2021 im Alter von 88 Jahren gestorben – wurde erst durch diesen Film zum Star und war dann lange einer der erfolgreichsten Schauspieler im französischen Film. So wie Bogart für Michel wurde auch Belmondo zu einem Image, mit vielfältigen Bedeutungen fürs Publikum.

Ausser Atem etablierte den Regisseur Jean-Luc Godard als auteur, gewissermaßen also auch als Star, dessen Name ein bestimmtes Kinoerlebnis versprach. Der Film gehört längst zum Kanon des Autorenfilms und fehlt in keinem Buch zur internationalen Filmgeschichte. Das heißt aber auch, dass er heute nicht mehr so gesehen werden kann wie 1960, als er in seiner Missachtung und Neuschreibung der Regeln des Films innovativ, ja revolutionär wirkte. Das Bild von Bogart weist zudem auf die Intertextualität, die bei Godard besonders ausgeprägt ist, aber zu jedem Film gehört: die Referenz auf, bisweilen auch Reverenz an andere Filme, Geschichten, Bilder, Personen oder Figuren sowie auf die außerfilmische Realität, also auf mögliche Kontexte, die die Bedeutung des Films für das Publikum mitbestimmen. Die vielen Verweise aufs Kino – kurz vor dieser Szene hat Michel eine Straßenverkäuferin von Cahiers du cinéma barsch abgewiesen – können auch als selbstreflexive Distanzierungen gesehen werden. Wenn Ausser Atem neben den ersten Filmen von Chabrol und Truffaut jetzt als ein kanonisches Beispiel der Nouvelle Vague gilt, wird kaum erinnert, dass dieser Terminus zunächst nichts mit dem Kino zu tun hatte, sondern von der Zeitschrift L’Express als Kennzeichnung eines neuen Lebensgefühls unter der französischen Jugend verwendet wurde, die selbst wiederum längst historisch ist, abgelöst von verschiedensten Bezeichnungen für folgende Generationen und jugendliche Lebensstile. Inzwischen mutet der Gang ins Kino selbst als etwas Historisches an und ist erheblich seltener geworden als zu den Zeiten, als es zumindest in den Städten die führende Freizeitbeschäftigung war.

All das heißt: Wir können nicht nur nicht wissen, was genau in Michel vor sich geht, wenn er kurz vor dem Kino verharrt und «Bogie» anschaut, ebenso wenig können wir wissen, was das Publikum im Kino dabei gedacht und gefühlt haben mag, als es 1960 Belmondo beim Betrachten Bogarts zuschaute. Einen direkten Zugang zu dieser Erfahrung gibt es nicht, und auch eine Befragung damaliger Kinogänger:innen ergäbe nur Informationen über deren Erinnerungen an ein vergangenes Erlebnis. Kritiken, filmhistorische und filmwissenschaftliche Artikel geben vielleicht Einblick in bestimmte Arten, den Film zu verstehen, die aber durch professionelle Perspektiven und Filter anders geartet sein können. Publikumszahlen und demografische Statistiken könnten helfen zu erschließen, wer den Film konsumiert hat, ob er populär und breitenwirksam war oder eher etwas für ein Nischenpublikum. Jeder Versuch, die Bedeutung eines historischen Films zu erfassen, kann nur eine annähernde Rekonstruktion sein, die sich auf verschiedene Quellen stützen, diese vielleicht sogar erst erschließen muss, was nur im Zusammenhang eines breiteren Kontexts gelingen kann. Kein einfaches Vorhaben. Dennoch eines, das wir für wichtig halten, wenn man Filme historisch und gesellschaftlich verstehen will.

In einem Gespräch über Filmhistoriografie antwortete die Historikerin Michèle Lagny auf die Frage, ob «die historische Rezeptionsforschung ein eigenständiges, vielleicht sogar das zentrale Arbeitsfeld für den Filmhistoriker » sei:

Das ist ein interessanter und auch wichtiger Punkt, vor allem für die Historiker, die mit Hilfe einer Analyse der historischen Rezeption Aussagen über den Einfluß des Kinos auf die Mentalitäten treffen wollen. Diese Geschichte der Rezeption bleibt jedoch letztlich eine Schimäre. Welche Quellen kann man heranziehen? […] [Zwar könne man] quantitative Daten erfassen (Besucherzahlen, korreliert mit den verschiedenen Kinotypen), die eine Art Soziologie des Filmesehens ermöglichen. Doch die tatsächliche Rezeption läßt sich nicht dokumentieren. (Lagny 1996, 7)

Wenn wir trotz dieser pessimistischen Einschätzung das Thema der historischen Rezeption jetzt erneut aufgreifen, ist es nicht, weil wir glauben, das Problem habe sich zwischenzeitlich gelöst, sondern weil wir sie immer noch für ein zentrales Arbeitsfeld in der Film- und Medienwissenschaft halten.

Ein Grund dafür ist, dass die Rezeption eine Schnittstelle bildet, an der verschiedene Aspekte zusammentreffen. Erst in der Rezeption wird die im Text potenziell angelegte Bedeutung realisiert. Hier treffen Produktion und Industrie, Publikum, soziale Institutionen, intertextuelle und kulturelle Netzwerke und Diskurse auf konkrete Menschen, die wiederum in vielfältigen Kontexten eingebettet sind (Demografie, Ethnien, Rasse, Gender, Klasse, Familie und soziale Gruppen, Ideologien), welche die Bedeutung eines Medientextes für die Rezipierenden mitbestimmen. Es geht also darum, Film nicht isoliert von der Gesellschaft und dem spezifischen historischen Kontext der Produktion und Rezeption zu betrachten, sondern im Sinne eines materialistischen Ansatzes als davon mitbestimmt und als Teil des «social text», der kulturellen, politischen, sozialen Diskurse zu sehen. Es geht um Bedeutung. Und die ist nicht abstrakt zu bestimmen, sondern nur in Bezug auf die Menschen, die das Publikum bilden. So haben sich im Laufe der Jahre verschiedene Stränge von Rezeptionsforschung herausgebildet, an die die Beiträge dieses Heftes anknüpfen.

Impulse, die Rezeption zu untersuchen, waren in der Filmwissenschaft lange Zeit eher selten zu finden. Oft kamen sie vielmehr von der Filmindustrie selbst, die mit Blick auf effektives Marketing wissen wollte, was das Publikum gern sieht, oder aber aus anderen Disziplinen, vor allem der Soziologie, wie Emilie Altenlohs 1913 veröffentlichte frühe Studie zum Mannheimer Kinopublikum oder ähnliche Arbeiten in den USA in den 1920er-Jahren. Solche Untersuchungen waren oft von Sorgen um die (vermeintliche oder befürchtete negative) Wirkung der Filme auf die Gesellschaft motiviert. Dennoch zeichnen sich hier Ansätze ab, die spätere Forschungen aufgreifen konnten. Das gilt etwa für Altenlohs Beobachtungen zur Bedeutung des weiblichen Publikums, die für Heide Schlüpmanns (1990) Untersuchung zum frühen deutschen Film eine wichtige Rolle spielen. Mit der Etablierung der Filmwissenschaft standen dann zunächst die Filme selbst im Mittelpunkt, das Publikum kam eher als ein theoretisches Konstrukt vor, als eine vom Text vorgegebene, in den 1970er-Jahren vor allem von der Psychoanalyse her betrachteten «Zuschauerposition», die dann von feministischen Theoretikerinnen als männlicher Blickpunkt kritisiert wurde, jedenfalls aber weitgehend abstrakt blieb.1 Mit der «New Film History» erweiterte sich der Blickwinkel von den Filmen als Gegenstand auf die Verhältnisse und Institutionen der Produktion und Distribution. Das war wichtig, um Film im weiteren Kontext zu sehen. Dabei gab es verschiedene Ansätze, von eher empirischen Industriegeschichten oder Analysen der wirtschaftlichen Strukturen zu Projekten wie Bordwell, Staiger und Thompsons Studie zum Classical Hollywood Cinema (1985), welche technologische, wirtschaftliche und institutionelle Entwicklungen mit einer historischen Poetik des Films koppelte. Das Publikum blieb hier als Menge impliziter oder idealer Zuschauer:innen konzipiert, die die in den formalen Elementen des Films und der Narration angelegten Bedeutungen durch kognitive Operationen nachvollziehen.

Programmatische Ansätze fanden sich beispielsweise bei Janet Staiger mit ihrem Projekt einer historisch-materialistischen Ausrichtung, die versucht, die kulturell verankerten interpretativen Strategien des Zuschauens im gesellschaftlichen Kontext einer Zeit festzustellen (Staiger 1992). Ein solcher Zugang stellt die Interaktionen zwischen Zuschauer:innen, Texten und Kontexten in den Mittelpunkt. Dann geht es darum, «die filmischen Artefakte verstärkt als soziale Texte und die Zuschaueraktivitäten als kulturelle Praktiken wahrzunehmen, um dabei die Prozesse der Bedeutungskonstruktion nicht nur auf der Produktionsseite, sondern – zusammen mit dem affektiven Erleben von Kino und Film – vor allem auf der Rezeptionsseite zu untersuchen» (Schenk/Tröhler/Zimmermann 2010, 10). Eine umfassende und systematische Skizze des Arbeitsfelds der Rezeptionsstudien hat Barbara Klinger entworfen (1997). Diese umfasst sowohl synchrone als auch diachrone Dimensionen mit jeweils mehreren Aspekten – synchron: Filmproduktion und die Filmindustrie («cinematic practices»), Intertextualität, und historisch-gesellschaftliche Kontexte (Wirtschaft, Recht, Religion, Politik, Klasse, Rasse und Ethnizität, Geschlecht und Sexualität, Familie, Ideologie, interkulturelle Rezeption); diachron: Wiederaufführungen, Retrospektiven, Rezensionen, akademische Filmtheorie, Kritik, Fernsehausstrahlungen, Video, Fankultur, Legenden, interkulturelle Rezeption (Klinger 1997, 123–127). Ein hieraus folgendes, ambitioniertes Projekt wäre es, eine «histoire totale» des Kinos zu schreiben, die Rezeption als Praxis der Bedeutungsproduktion im Netzwerk der Relationen zwischen Text und Kontexten versteht (ibid. 108).

Eine wichtige Konzeption der Rezeption fand sich bei den «Cultural Studies» mit dem Begriff des «active audience», allerdings eher in der Auseinandersetzung mit Fernsehen und Populärkultur im Allgemeinen als mit Film (vgl. den Nachruf auf John Fiske in diesem Heft). Hier wurde das Publikum nicht mehr als mehr oder weniger passiver Konsument vorgegebener Bedeutungen gesehen, sondern als in gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten verankerter Mitproduzent. Dementsprechend ging es nicht mehr um eine, sondern um verschiedene «Lesarten» eines Textes. Dass die Rezeptionsweisen im Publikum nicht einheitlich sind, sondern auch mit sozialen Faktoren, Identitäts- und Genderpolitik oder gruppenspezifischen Kulturen zusammenhängen, zeigen Studien zu Fankulturen. Richard Dyer hat z. B. die Camp-Rezeption von Judy Garland und die Bedeutung von Paul Robeson für Schwarze und Weiße in den USA untersucht (1986).

Manche dieser Ansätze gingen in Richtung empirische oder ethnografische Publikumsforschung, andere um ein erweitertes Verständnis, wie Texte und Rezipienten interagieren (also letztlich um Fragen der Pragmatik) und wie dieses Verhältnis strukturiert wird. Dokumente individueller oder auch kollektiver Aneignungsprozesse wie die von Fans zusammengestellten scrapbooks, in denen sie ihrer Cinéphilie Ausdruck verliehen, Fanmagazine, aber auch Oral History-Projekte wurden in der historischen Rezeptionsforschung fruchtbar gemacht, um die Vielfalt an Bedeutungskonstruktionen durch die unterschiedlichsten Publikumsgruppen zu erfassen.2

Das internationale HoMER (History of Moviegoing, Exhibition and Reception) Netzwerk, das sich 2004 gründete, macht die Kinoerfahrung zu einem zentralen Forschungsgegenstand.3 Die «New Cinema History» richtet sich dementsprechend auf die Geschichte der Institution Kino und insbesondere des Kinopublikums, bisweilen in polemischer Abgrenzung zur Filmgeschichtsschreibung, in der die ästhetischen und stilistischen Entwicklungen des Mediums im Mittelpunkt stehen.4 In zahlreichen Diskussionen wurde daher immer wieder in Frage gestellt, inwieweit das Kinoerlebnis als solches für das Publikum wichtiger war als die jeweiligen Filme. Eine in Großbritannien von Annette Kuhn durchgeführte Oral-History-Studie mit Menschen, die in den 1930er-Jahren ihre ersten Kinoerfahrungen sammelten, ergab, dass ihnen die Erinnerung an Kinos und die Umstände des Kinobesuchs meist sehr viel genauer im Gedächtnis geblieben waren als die Filme (Kuhn 2002).

Andererseits gab es aber durchaus Unterschiede in der Popularität einzelner Filme beim britischen Publikum, wie John Sedgwick für eben diese Periode anhand seiner POPSTAT-Methode gezeigt hat – einer Methode, die als Grundlage für verschiedene Studien zur Rezeption in europäischen Ländern dient und auch in mehreren Beiträgen zu diesem Heft herangezogen wurde.5 Eben diese Unterschiede zu erklären, bleibt eine der Herausforderungen für die Rezeptionsforschung.

Dass einzelne Filme im Publikum durchaus auch Kontroversen auslösen konnten, zeigen bisweilen Reaktionen, die festgehalten und dokumentiert wurden. Magdalena Saryusz-Wolska betrachtet den Fall einiger Beschwerdebriefe, in denen westberliner Bürger:innen nach mehr Filmzensur verlangten. Daraus zieht sie Schlüsse über damalige Vorstellungen über die Wirkung eines Films auf Jugendliche und über die moralische Atmosphäre der 1950er-Jahre. Sie zeigt dabei verschieden Lesarten und Erwartungshorizonte auf, stellt den Einzelfall auch in einen größeren methodologischen Kontext.

Historische Publikumsvorlieben untersucht Andrzej Dębski im lokalen Kontext in Breslau (heute Wroclaw in Polen) während der Spielzeit 1926/27. Mit Daten aus der Presse wendet er die POPSTAT-Methode von Sedgwick an, ermittelt Zuschauerzahlen für die Filme, die er dann als Basis nimmt, um Schlüsse über vorherrschende Tendenzen im Publikumsgeschmack zu ziehen. Mit seinem Beitrag beteiligt sich Dębski an der Darstellung lokaler Kinogeschichte(n) und liefert Material für vergleichende Studien. Auf souveräne Weise trägt er zum grenzüberschreitenden Forschungsdiskurs der deutschen wie der polnischen Mediengeschichtsschreibung bei.

John Sedgwick entwickelte seine POPSTAT-Methode, die es ermöglicht, fehlende Zuschauerzahlen zu errechnen, als einen Versuch, das Problem unvollständiger Quellen und Daten zur historischen Rezeption zu überwinden. Dass es dabei um mehr als nur eine statistische Methode geht, skizziert er in dem hier übersetzten Text, der seinen Ansatz, Filmgeschichte von der Mikroebene einzelner Fakten – Ticketkäufe an den Kinokassen – her zu schreiben, dabei aber nicht stehen zu bleiben, sondern daraus Schlüsse über den Publikumsgeschmack auf lokaler oder nationaler Eben zu ziehen oder sogar kulturelle Vergleiche zu begründen.

Historisch markierten die späten 1920er-Jahre einen medialen Umbruch mit der Einführung des Tonfilms. Daniel Wiegand nimmt einen eher untypischen frühen Tonfilm in den Fokus, Die Nacht gehört uns (D 1929), der gerade durch Stille und das Fehlen extradiegetischer Klänge wie Geräusche und insbesondere Musik eingesetzt werden sollten. So wurde offensichtlich nicht nur der einzelne Film, sondern auch die Veränderung im filmischen Dispositiv intensiv und unterschiedlich wahrgenommen.

Ein anderes Dokument intensiver Rezeption findet sich in Hans Richters Rückblick auf die tumultuarische Berliner Premiere (1926) von Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin. Christine N. Brinckmann kontextualisiert dieses historische Zeugnis, das die Beschreibung der Publikumsreaktion mit einer Analyse der Gründe verbindet.

Dass die Rezeption historischer (Propaganda-)Filme von ihrer Präsentation abhängt, ist der Ausgangspunkt der Überlegungen von Rasmus Greiner. Mit dem Begriff der «Mise en histoire» beschreibt er, wie das Erleben sogenannter «Vorbehaltsfilme» (NS-Propagandawerke) mit dem filmisch als historisch Dargestellten zusammenhängt und postuliert in Anlehnung an Roger Odin verschiedene Modi der Rezeption, die wiederum sowohl mit persönlichen Einstellungen und Erinnerungen als auch mit der Rezeptionssituation und deren institutioneller Rahmung zusammenhängen.

Mit Blick auf einen Film, nämlich den semi-dokumentarischen Il valore della donna è il suo silenzio (Das höchste Gut einer Frau ist ihr Schweigen, D/CH 1980) von Gertrud Pinkus, untersucht Margrit Tröhler historische Vorführ- und Rezeptionssituationen. Sie rekonstruiert die engagierte Praxis der Schweizer Regisseurin, die ihren Film über italienische Emigrantinnen in Frankfurt a. M. während der ersten Hälfte der 1980er-Jahre oft und durch zahlreiche Länder begleitete und im Anschluss an die Vorführung Publikumsgespräche veranstaltete. In dem von Tröhler geführten Interview, das wir im Anschluss an den Aufsatz abdrucken, erzählt Gertrud Pinkus von den Erfahrungen, die sie auf ihren internationalen Reisen mit dem Film gemacht hat.

Der Beitrag von Christof Decker widmet sich der Rezeptionsforschung, die für den Dokumentarfilmbereich weiterhin eine terra incognita darstellt. Das besondere Interesse liegt auf neuen Ansätzen des designing for impact, wie sie etwa am Center for Media and Social Impact (CMSI) der American University (Washington, D. C.) entwickelt wurden. Design- und Impact-Strategien zielen auf Optimierung intendierter Filmwirkungen, vor allem im Bereich des politischen Aufklärungs- und Kampagnenfilms. «Social impact documentaries» planen die Zuschauerreaktionen vor und beziehen sie systematisch ein. Sie bedeuten daher eine strategische Neuausrichtung dokumentarischer Produktionspraxis.

In einem durch die Pandemie forcierten Medienwandel scheint für viele das Kinoerlebnis selbst historisch zu werden, hat man doch lange auf den Kinobesuch verzichten müssen und werden Filme zunehmend in anderen Dispositiven rezipiert. Ob das oft totgesagte Kino jetzt – wieder einmal – überlebt und in welcher Form, wird sich noch zeigen. Dass die Rezeption eng im Zusammenhang mit den medialen Dispositiven zu verstehen ist, ist jedoch klar. In seinem Beitrag – sowohl zum Themenschwerpunkt wie zu unserer Artikelreihe «Dispositive» – untersucht Frank Kessler einen frühen Fall eines filmischen Medienwandels und seine Auswirkung auf das pragmatische Verhältnis zwischen dem Medium (hier Mikrokinematografie mit wissenschaftlichem Vortrag) und den Zuschauenden.

Mit den folgenden zwei Artikeln greifen wir außerhalb unseres Schwerpunkts erneut jüngste Forschungen zum Thema Filmfarben auf. Susanne Marschall widmet sich in ihrem Text einem Close Reading/Viewing des südkoreanischen Films Parasite (2019, R: Bong Jong-ho) und zeigt, wie auf der grün grundierten, aus feinen Nuancen kreierten Farbpalette der gesellschafts- und sozialkritischen Parabel sich die Durchmischung zweier unvereinbarer Millieus manifestiert, die auch als eine Differenzqualität der Farben, Texturen und Materialien gelesen werden kann. Gleichzeitig bindet sie diese Analyse an eine von ihr entwickelte Taxonomie der Filmforschung ein, die sie als KinematoGramm bezeichnet und hier erstmals zur Diskussion stellt. Evelyn Echle lenkt den Blick auf die Praxis der Filmkolorierung. Im Interview mit Nicole Allemann, einer langjährigen Colour Graderin für internationale Kino- und Fernsehproduktionen, zeigt sich die Komplexität des Gegenstands Farbe sowohl im beruflichen Alltag als auch für die Restaurierung von Filmen.

Vor kurzem verstarb John Fiske, eine der prägenden Figuren der Cultural Studies, der Fernseh- und der Populärkulturforschung. Seinen Beitrag zur Medien- und Kulturwissenschaft würdigt Eggo Müller in einem Nachruf auf John Fiske, dem Montage AV 1993 das erste Schwerpunktheft überhaupt gewidmet hat. Die Nachricht von seinem Tod hat uns sehr berührt.

Stephen Lowry und Frank Kessler für die Redaktion

1 Für eine ausführlichere Skizze der Entwicklung siehe Biltereyst/Meers 2018. Einen systematischen Überblick gibt Staiger 2005.

2 Einige wichtige Meilensteine in der Entwicklung solcher historischen Ansätze haben Forscher wie Robert C. Allen (1990) und Douglas Gomery (1992) gesetzt; ethnografische Arbeiten zu Fans und deren Erinnerungen finden sich bei Stacey1994, Staiger 1983; Oral History und Kinoerlebnisse bei Treveri Gennari 2018; lokale Kino- und Rezeptionsgeschichte bei Smoodin, https://histcultcine.hypotheses.org; Sammelbände: Maltby 2011; Schenk/Tröhler/Zimmermann 2010; Christie 2012.

3 https://homernetwork.org

4 Zur «New Cinema History» vgl. Biltereyst/Maltby/Meers 2019.

5 Zur Anwendung dieser Methode bei der Erforschung der Popularität europäischer Filme von den Anfängen bis 1939 vgl. Garncarz 2015, zu Publikumsvorlieben in der NS-Zeit Garncarz 2021.

Literatur

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